Solidarität, die Mut und Hoffnung macht

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Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, erzählt im Interview, wie es den Tafeln angesichts wachsender Herausforderungen geht und welche Rolle sie in der Krise einnehmen.

Im Jahr 2020 haben wir die Pandemie als größte Herausforderung unserer bisherigen Geschichte benannt. 2023 – nur drei Jahre später – wird die Tafel-Bewegung 30 Jahre und wieder müssen wir sagen: Die Situation ist angespannt wie nie. Wie blicken Sie auf das vergangene Jahr zurück?

Ich erinnere mich noch gut an den letzten Winter. Viele Helferinnen und Helfer berichteten von ihrer Erschöpfung. Anfang des Jahres 2022 hatten viele die Hoffnung, nach zwei Jahren Pandemie langsam durchatmen zu können. Doch statt einer Entspannung der Situation stiegen ab Januar die Preise für Lebensmittel und mehr und mehr Tafeln erlebten eine verstärkte Nachfrage. Mir erzählten Helferinnen, dass sie neben der Lebensmittelausgabe eigentlich seelsorgerische Aufgaben wahrnehmen müssten, weil die Menschen zunehmend verzweifelt sind. Durch die Pandemie waren die finanziellen Reserven völlig aufgebraucht, die Regelsätze sowieso schon zu niedrig. Es gab ja auch so gut wie keine Corona-Hilfen für armutsbetroffene Menschen oder Menschen mit wenig Geld.

Auf diese Situation traf dann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Am 24. Februar 2022 veränderte sich nochmal alles.

Ein Krieg auf europäischem Boden, nicht weit von uns entfernt, relativiert selbst die Pandemie und ihre Folgen. Das Ausmaß der Not hat alles bisher für uns Vorstellbare übertroffen. Nicht wenige Tafeln hatten von einem auf den anderen Tag doppelt so viele hilfesuchende Menschen vor der Tür stehen. Teils standen dort hunderte geflüchtete Frauen mit ihren Kindern, ohne sich verständigen zu können, ohne das Tafel-System zu kennen, plus immer mehr Menschen, die die Preise für Lebensmittel und Energie einfach nicht bezahlen können.

Die Tafeln hatten das 2015 und 2016 schon einmal erlebt, als viele Geflüchtete aus Syrien zu uns gekommen sind…

… man hatte zum Kriegsbeginn eine Art Déjà-vu, es gab relativ schnell eine große Lebensmittelknappheit, Chaos bei den Behörden. Das Gefühl war bei den Tafeln wieder da, allein gelassen zu werden und sogar benutzt zu werden als Ersatzhilfen, die eigentlich der Staat leisten muss. Zu uns kamen und kommen teilweise immer noch Menschen aus der Ukraine, die von den Behörden weggeschickt und stattdessen an die Tafeln verwiesen werden. Hier macht uns der Staat zu etwas, das wir nicht sind und auch nicht sein wollen: Es wird der Eindruck erweckt, als gäbe es einen Rechtsanspruch auf Lebensmittel von den Tafeln. Als seien wir Teil des sozialstaatlichen Systems. Das sind wir nicht.

Wie blicken Sie auf die kommende Zeit?

Wir haben aktuell bundesweit rund 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden. Ein Drittel der Tafeln haben schon einen Aufnahmestopp – das bedeutet, der Bedarf wäre noch größer und wird vermutlich weiter steigen. Wir sind in einer wirklich schwierigen Situation. Doch unsere Helferinnen und Helfer resignieren nicht und helfen nach Kräften weiter. Da entsteht eine große gesellschaftliche Kraft und Solidarität, die Mut und Hoffnung macht. Und trotzdem mache ich mir auch Sorgen, dass wir uns übernehmen. Wir können als Tafeln nicht unbegrenzt Kapazitäten hochfahren und weiterwachsen. Dafür fehlen uns nicht nur Lebensmittel. Die Helferinnen und Helfer können einfach nicht mehr, wenn immer mehr verzweifelte Menschen kommen, es fehlen Räumlichkeiten und so weiter. Wir wissen, dass diese Krise, der Krieg, länger anhalten wird. Wir werden noch eine Weile durchhalten müssen. Die symbolische Bedeutung der Tafeln sollte nicht größer gemacht werden als das, was wir tatsächlich leisten können.

Welche Rolle können die Tafeln denn einnehmen in dieser Krise?

Ich denke, dass Tafel-Arbeit per se politisch ist. Das wird in Krisen, auch schon während der Pandemie, deutlicher als je zuvor. Ich meine damit nicht, dass wir parteipolitisch sind. Aber wir können nicht so tun, als könnten wir uns nicht in Debatten einmischen. Unsere Helferinnen und Helfer, wir alle, werden zu Fürsprechern armutsbetroffener Menschen, und wir werden nicht müde, politische Lösungen zu fordern für eine echte Armutsbekämpfung. Wir stehen als engagierte Zivilgesellschaft in dieser großen Krise bereit und reichen dem Staat die Hand, aber wir können nicht alleine gelassen oder als letzte Anlaufstelle behandelt werden, wenn der Staat nicht schnell und entschieden handelt.

Wie erleben Sie denn die Stimmung in den Tafeln im Land, bei den Helferinnen und Helfern?

Ich glaube, dass die Menschen, die bei uns helfen, ganz unmittelbar verstehen, dass Armut eine existenzbedrohliche Energie hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass ja auch unsere Helferinnen und Helfer selbst von der aktuellen Krise betroffen sind, vielleicht finanzielle Sorgen haben oder ihren Lebensstandard runterfahren müssen. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen insgesamt empathischer werden und wahrnehmen, dass Menschen mit wenig Geld jetzt keine Chance mehr haben. Es ist eine unfassbare Leistung, dass Menschen, die selbst betroffen sind, die Notwendigkeit sehen zu helfen – und das auch tun – weil es anderen noch schlechter geht. Tafel-Arbeit ist Gemeinschaftssinn und der Wunsch und die Möglichkeit, sich für die Gesellschaft einzusetzen über seine eigenen Themen hinaus. Ich erlebe aber auch viel Wut auf die Politik. Das Gefühl, in einem freiwilligen Dienst an der Gesellschaft völlig alleine gelassen zu werden und an der Verantwortung zu zerbrechen. Das darf nicht sein.

Und bei den Kundinnen und Kunden?

Ich erlebe immer mehr Menschen, die sich von der Politik und auch der Gesellschaft insgesamt abgewendet haben, die nicht mehr daran glauben, dass für sie Politik gemacht wird oder dass sich ihre Situation verbessern kann. Da herrscht große Angst und Frustration. Die Menschen sind zum Teil nicht mal mehr wütend, sondern haben einfach aufgegeben. Das ist bedrückend und auch gefährlich für unsere Demokratie. Wenn wir es bei den Tafeln schaffen, nur einem einzigen Menschen wieder ein Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln und ihnen vielleicht sogar eine sinnstiftende Aufgabe geben können, weil sie sich bei uns engagieren, dann weiß ich, wofür wir das alles auch machen.

Dieses Interview ist im Tafel-Magazin 2022 erschienen.

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