Politik übersieht die Armen – und die Helferinnen und Helfer

Eine Kundin holt Lebensmittel in der Tafel ab

© Philip Wilson

Im April 2020 sind fast die Hälfte der Tafeln in Deutschland geschlossen. Ungewollt gab es so etwas wie einen Tafel-Streik. Tafel-Kritiker halten dies immer wieder für ein wirksames Mittel, um der Politik Druck zu machen, sich endlich selbst um arme Menschen zu kümmern. Hat es gewirkt?

Neue Form der Not

In den Zeiten dieser Pandemie ist für viele Menschen völlig unverschuldet eine Situation eingetreten, für die man sich in guten Zeiten einen „Notgroschen“ zur Seite legt. Plötzlich ist da kein Einkommen mehr, plötzlich gibt es keine Möglichkeit, mit seinem Beruf Geld zu verdienen. Aufträge brechen weg. Es gibt nichts zu tun und deshalb Kurzarbeit – und nur noch 67 Prozent des Lohns. Aber die Kosten laufen weiter: Miete, Versicherungen, Lebensmittel, vielleicht ein Darlehen oder das Auto.

Menschen, die gerade noch gut leben konnten, stehen plötzlich vor dem Nichts – und vor der Tafel in ihrer Stadt. Sie nehmen Kontakt auf mit einer völlig fremden Welt, in der sie sich selbst nicht verorten, wo man nicht hin muss und nicht hingehört. Die Tafeln nehmen zu dieser Zeit eine neue Form der Not in Deutschland wahr.

Gleichzeitig geraten die Tafeln selbst in Not. Ehrenamtliche, die seit Jahren helfen, verzweifeln. Wollen gerade jetzt helfen. Müssen gleichzeitig sich, die Mitarbeitenden und ihre Kundinnen und Kunden schützen – bei vielen Tafeln ist beides nicht zusammenzubringen. Die Räumlichkeiten sind eng, die Helferinnen und Helfer zu einem überwiegenden Teil im Rentenalter. Händeringend werden Lösungen gesucht.

Tafeln sind plötzlich systemrelevant

Szenenwechsel. Eine Mitarbeiterin aus dem Sozialamt ruft an, in ihrer Stimme schwingt Dringlichkeit mit. Die Stadt wolle helfen, damit die Tafel wieder öffnen kann. Sie wisse ja, dass einige ihrer „Klienten“ auf diese Hilfe angewiesen sei. Die Alleinerziehende, die Familie mit Arbeitslosengeld II, die Seniorin. Für Menschen, die sowieso nur Geld für das Allernötigste haben, ist der Lockdown keine Zeit, in der die Ausgaben sinken. Kino, Theater, Restaurant, Café oder gar ein Urlaub sind auch sonst nicht möglich. Die Kosten steigen sogar: Plötzlich sind alle Familienmitglieder zuhause, es gibt kein kostenfreies Schul- oder Kitaessen, soziale Angebote wie Mittagstische oder Seniorencafés fallen weg, Masken und Desinfektionsmittel müssen gekauft werden.

Die Tafeln werden im Lockdown von den meisten Gesundheitsämtern und Behörden als Lebensmittelhändler eingestuft – sie dürfen öffnen. Das ehrenamtliche Engagement ist plötzlich systemrelevant. Auf lokaler Ebene werden Allianzen geschmiedet, die Tafeln erfahren vielfältige Hilfen.

© Philip Wilson

Flächendeckende Unterstützung vom Bund bleibt aus

Was allerdings ausbleibt: bundesweite Hilfen für armutsbetroffene Menschen. Und bundesweite Hilfen für die Helferinnen und Helfer, für die Tafeln. Nur in zwei Bundesländern – in Hessen und in Nordrhein-Westfalen – bringen die Landesregierungen zügig ein maßgeschneidertes, finanzielles Soforthilfeprogramm für die Tafeln auf den Weg. In beiden Ländern hatten besonders viele Tafeln geschlossen. Das Ziel: die Tafeln sollen den Lockdown und die Pandemie überleben und sie sollen zukunftssicher sein. Geschlossene Tafeln sollen ihre wegfallenden Einnahmen kompensieren und die laufenden Kosten decken können. Denn was viele nicht wissen: Die Tafeln finanzieren sich auch aus den kleinen symbolischen Beträgen ihrer Kundinnen und Kunden für die Lebensmittel. Geld gibt es auch, um Schutz- und Hygienemaßnahmen in den Tafeln einzurichten.

Die Tafeln haben es mit Hilfe von öffentlichen Mitteln und vor allem Spendengeldern geschafft, ihre Arbeit an die Pandemie-Bedingungen anzupassen. Im zweiten „Lockdown light“ im Herbst können fast alle Tafeln geöffnet bleiben. Was übersehen wird: Dennoch sind Tafeln im Notbetriebs-Modus – sowohl bei der Ausgabe der Lebensmittel, als auch und vor allem bei ihrer wichtigen Arbeit darüber hinaus. Tafeln sind Begegnungsorte, Hausaufgabenhilfe, Gärtnerei und Seniorencafé. Die Helferinnen und Helfer erkennen, wenn es einer Kundin oder einem Kunden nicht gut geht. Sie vermitteln zu weiteren Hilfsangeboten oder hören einfach zu. All das findet aktuell nicht oder stark eingeschränkt statt – und wäre gerade jetzt so wichtig.

Pandemie verschärft soziale Frage

Die Politik erkennt diese Arbeit der Tafeln nicht an, wenn Hilfen ausbleiben. Die soziale Frage wird sich durch die Pandemie verschärfen, analysiert Bundeskanzlerin Angela Merkel richtig. Finanzielle Hilfen für armutsbetroffene Menschen bleiben bislang ebenso aus, wie eine gezielte Unterstützung und Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, das sich um Mitmenschlichkeit und Wärme in der Gesellschaft bemüht.

Der Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2020.

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