„Volle Tonne, leere Teller“

© Rainer Pfisterer

Es gibt Gesprächsbedarf in unserem Land. Vor allem aber: Lasst uns handeln! – ein Buch von Jochen Brühl

Jochen Brühl ist einer von 60.000 – einer von 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern bei den Tafeln. Seit 20 Jahren ist er bei den Tafeln aktiv, seit 2013 als Vorsitzender des Dachverbands. In dieser Zeit hat er die deutsche Gesellschaft wie durch ein Brennglas beobachtet. Denn bei den Tafeln verdichtet sich und wird sichtbar, was schief läuft in unserem Land.

Für jemanden, der sich bei den Tafeln engagiert, verändert sich der Blick auf eines der reichsten Länder der Welt nachhaltig: Die Missstände in unserer Gesellschaft lassen sich nicht nur an der Armut und Not vieler Menschen ablesen, sondern auch am unsäglichen Überfluss und der gigantischen Lebensmittelverschwendung.

Es muss sich etwas ändern in unserem Land

Jede und jeder, die oder der sich bei den Tafeln zwischen den Gegensätzen von Überfluss und Mangel engagiert, wird wohl sagen: Es muss sich etwas ändern in unserem Land – und spricht damit Verantwortliche in der Politik und die Gesellschaft insgesamt an. Jede und jeder dieser 60.000 Tafel-Ehrenamtlichen sagt aber auch: Ich ändere was. Ich werde selbst aktiv.

Mit dieser Haltung im Gepäck ist Jochen Brühl auf Reisen gegangen. Auf Reisen zu den unterschiedlichsten Menschen – von Gerhard Trabert, einem Arzt, der kostenfrei Obdachlose behandelt, über Sternekoch Tim Raue und Food-Bloggerin Henriette Egler bis zu Klaus Middelhoff, Ex-Karstadt/Arcandor-Manager. Sie alle konfrontiert er mit seinen Erfahrungen bei den Tafeln, mit der deutschen Wirklichkeit von Armut, Verschwendung und Ungerechtigkeit. 

Ein Debattenbuch, das zum Nachdenken anregt

Daraus ist ein spannendes und streitbares Debattenbuch entstanden, das zum Nachdenken anregen und zum Mitmachen aufrufen will. Die Gespräche im Buch sind leise Gesellschaftsbeobachtung, Geschichten persönlichen Scheiterns und Schams, laute Anklage und bewundernswerte Vorbilder für gemeinnütziges Engagement.

Das Buch zeigt allen, die bislang nicht hingesehen haben, schonungslos den Gegensatz von irrsinnigem Überfluss auf der einen und Armut und Not auf der anderen Seite. Aber es verbleibt nicht im Problematisieren. Jochen Brühl sagt: „Ich möchte vor allem eine Debatte anstoßen und Menschen zum Nachdenken bringen, aber auch herausholen aus einer bequemen Haltung, alles zu kritisieren und selbst nicht aktiv zu werden. Es werden in unserem Land gigantische Mengen an genießbaren Lebensmitteln weggeschmissen. Wir müssen damit aufhören. Da kann jede und jeder erstmal bei sich zuhause beginnen. Gleichzeitig gibt es eine Not und Einsamkeit in unserer Gesellschaft, die mich auch nach mehr als 20 Jahren Engagement bei den Tafeln noch sprachlos und traurig macht. Wenn es einem selbst gut geht, sollte man hinsehen und helfen. Das ist eine Frage der inneren Haltung. Bei den Tafeln wird diese Mitmenschlichkeit gelebt – und sie berührt mich immer wieder aufs Neue und stimmt mich hoffnungsvoll.“

Das Buch macht deutlich: Das Engagement der Tafeln ist auch nach mehr als 25 Jahren einzigartig in Deutschland. Die Tafeln sind die einzige große Ehrenamtsbewegung, die soziale und ökologische Probleme im Zusammenhang sieht – und Lösungen entwickelt auf Basis einer einfachen Idee. Sie bringen das, was auf der einen Seite zu viel ist, dahin, wo es fehlt.

Jochen Brühl widerspricht im Buch der Sichtweise, dass die Tafeln Armut in unserem Land verfestigen. Er hält die Politik klar an, die Ursachen nicht mit den Folgen zu verwechseln. Tafeln machen Armut und Lebensmittelverschwendung sichtbar. Sie verschulden sie aber nicht. Gleichzeitig sagt er, die Tafeln alleine können diese gigantischen Probleme nicht an ihren Ursachen lösen. Sie dürfen mit ihrem Engagement nicht alleine gelassen werden.

Der Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2019.

Das Buch ist im Herbst 2019 im adeo Verlag erschienen und kann für 22,90 Euro gekauft werden. Ein Euro pro Buch gehen als Spende an die Tafel Deutschland.

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