Zeit zum Durchatmen

Vertieft ins Basteln: Michaela Wilk, Justine Skonetzki, Nadine Werner und Hanna (v. l. n. r.).

 © Ulrike Wronski

Gemeinsam mit der Tochter einen Papierhut zusammenkleben, geduldig die Buchstaben ausschneiden, die ihren Vornamen „Lina“ bilden und dann beobachten, wie sich die Vierjährige über ihren Kopfschmuck freut. Solche Momente sind wichtig für Linas Mutter Sandra Gronemann und die anderen vier Frauen, die alle an einem großen Tisch sitzen und zusammen mit ihren Kindern basteln.

Solche Momente sind aber nicht selbstverständlich. Weil mal die Zeit fehlt, mal die Geduld und sehr oft das Geld. Eine echte Auszeit vom Alltag, wie sie die fünf Mütter und ihre Kinder hier im Ferienparadies in der Lüneburger Heide erleben, können sich die Frauen sonst nicht leisten. Sie alle sind Kundinnen der Tafel Zerbst. Sie alle haben zu Hause mit kleinen und großen Herausforderungen zu kämpfen.

„Einmal am Tag kochen und essen wir zusammen – darauf lege ich großen Wert“

Das gemeinsame Essen wird vorbereitet

Die Kleinstadt Zerbst liegt in Sachsen-Anhalt, unweit der Grenze zu Brandenburg. Vier Stunden hat die Fahrt von dort in den Center Parc Bispinger Heide gedauert. Birgit Brandtscheit, die Leiterin der Zerbster Kinder-Tafel, hat die Reise organisiert. Zwei Bungalows mit Garten stehen den Familien zur Verfügung. Und außerdem ein weitläufiger Park mit Spielplätzen und einem Streichelzoo. „Die Woche Urlaub soll den Muttis dabei helfen, zur Ruhe zu kommen und sich mit ihren jüngeren Kindern zu beschäftigen“, erklärt Brandtscheit. „Einmal am Tag kochen und essen wir zusammen – darauf lege ich großen Wert.“

Was „Tante Birgit“ sagt, wird gemacht. Die resolute Tafel-Mitarbeiterin kennt die Frauen und ihre Kinder schon lange. In Zerbst sind sie jeden Freitag Gäste der Kinder-Tafel. Dort erhalten sie nicht nur Lebensmittel, sondern kochen und spielen gemeinsam, finden bei Problemen immer ein offenes Ohr. Vor elf Jahren hat Brandtscheit die Kinder-Tafel mit ins Leben gerufen. Die Fahrt in die Lüneburger Heide ist nicht die erste Reise, die die 56-Jährige auf die Beine gestellt hat, aber es ist die erste, bei der neben den Kindern auch die Mütter dabei sind.

„Wir hatten bis zuletzt Wackelkandidatinnen“

Dieses Mal sei ganz schön viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen, erinnert sich Brandtscheit. „Nicht bei den Sponsoren, sondern bei den Teilnehmerinnen. Wir hatten bis zuletzt Wackelkandidatinnen.“ Während sie das sagt, guckt die Tafel-Mitarbeiterin Sandra Gronemann an. Die zuckt mit den Schultern und grinst. Während Lina mit den anderen Kindern übers Gelände rennt, schiebt Gronemann ihre einjährige Tochter Mel im Kinderwagen vor sich her. Ihr Neunjähriger wohnt diese Woche bei einer Freundin, erzählt die alleinerziehende Mutter.

„Es war schön, nur mit einem Kind unterwegs zu sein“

Als die Hälfte des Urlaubs rum ist, müssen zwei Mütter mit ihren Kindern abreisen. Die eine wird bei der Arbeit gebraucht, das stand von vornherein fest. Die andere, Michaela Wilk, muss nach Hause, weil einer ihrer älteren Söhne einen Unfall in der Schule hatte. Nichts Schlimmes zum Glück, aber die sechsfache Mutter wird trotzdem daheim erwartet. Sohn Fabian (6) ist genauso traurig über das vorzeitige Urlaubsende wie seine Mama. Zum Abschied sagt Michaela Wilk: „Es war schön, mal nur mit einem Kind unterwegs zu sein.“

Auch Nadine Werner hat sechs Kinder. Die beiden jüngsten, Max (5) und Hanna (2), genießen die Zeit mit ihrer Mutter in Bispingen. Die schulpflichtigen Geschwister sind beim Vater zu Hause geblieben. Der kümmert sich auch um die Schweine, Schafe und die anderen Tiere, die auf dem Bauernhof der Werners leben. Urlaub ist sonst für die Familie nicht drin. Doch egal wie groß der Stress zu Hause sein mag, Nadine Werner ist im Umgang mit ihren Kindern die Ruhe selbst.

„Die Muttis erzählen, wie sie sich dann fühlen“

Anderen Müttern fällt es schwer, ruhig zu bleiben, wenn ihre Kinder nicht gleich das machen, was sie von ihnen erwarten. „Wir setzen uns zwischendurch zusammen und reden über solche Situationen“, sagt Birgit Brandtscheit. „Die Muttis erzählen, wie sie sich dann fühlen, und wir schauen, was Erziehungsexperten empfehlen.“ Die Tafel-Mitarbeiterin holt einen Handlungsleitfaden mit dem Titel „7 Anti-Wut-Tipps: Erste Hilfe beim Trotzanfall“ hervor.

Am Nachmittag steht ein Ausflug in den Streichelzoo auf dem Programm. „Wir wollen zu den Zicken!“, rufen die Kinder am Tor zum Außengehege. „Die haben wir doch dabei“, antwortet Birgit Brandtscheit trocken. Dann holt sie Knäckebrot aus ihrem Rucksack und verteilt die Scheiben an ihre Gruppe. „Nicht die Arme hochreißen, sonst springen sie hoch“, rät Brandtscheit. Und schon beginnt die Lebensmittelausgabe im Streichelzoo. Noch so ein Moment, der den Kindern und ihren Müttern als gemeinsame Urlaubserinnerung bleiben wird.

Ziegenfütterung im Streichelzoo:
Birgit Brandtscheit mit Lina-Jolie, Fynn-Luca (Mitte) und Max.

Die Tafel Zerbst wurde 2002 gegründet und ist heute ein eingetragener Verein. Fünf Ehrenamtliche helfen bei der Lebensmittelausgabe. Mit ihrem Engagement unterstützen sie etwa 200 Haushalte. Die Tafel Zerbst fördert zusätzlich Ernährungsbildung bei Kindern. Im Rahmen der Kinder-Tafel kochen die Ehrenamtlichen gemeinsam mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien, besuchen Bauernhöfe und kümmern sich um Pflanzen und Tiere. Die Zerbster Kinder-Tafel ist eines von insgesamt zwölf HeimatTafeln – ein Projekt der Tafel Deutschland, das die Integration von Geflüchteten und die Wertschätzung von Lebensmitteln fördert. „Zu gut für die Tonne!“ unterstützt das Projekt, das über einen Zeitraum von drei Jahren bis Sommer 2019 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert wird.

Der Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2018.

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