Foto: Christian Plaum
Mit vielen besonderen Aktionen unterstützt die Tafel Gießen Kinder und ihre Familien. Warum ihr das eine Herzensangelegenheit ist, darüber spricht Tafel-Leiterin Anna Conrad.
Jedes fünfte Kind lebt in einem Haushalt, der als einkommensarm oder davon bedroht gilt. Bei den Tafeln wird Kinderarmut sichtbar. Welche Erfahrungen machen Sie bei der Tafel Gießen?
Anna Conrad: Wir unterstützen bei der Tafel Gießen zurzeit rund 1250 Haushalte, zu diesen gehören etwa 1700 Kinder unter 12 Jahren. Bei den Familien stehen viele Problematiken gleichzeitig an. Vieles ist teurer geworden: Lebensmittel, Strom, Medikamente, Schulbedarf, Kleidung. Wenn die Ressourcen knapp sind, müssen Familien schauen, wo sie einsparen können und was überhaupt geht. Das trifft leider auch die Bedürfnisse von Kindern. Ob es um ordentliche Winterschuhe oder die Winterjacke geht, um eine Anmeldung zum Sportkurs, den man sich nicht leisten kann oder den Schulranzen. Es sind aber meist nicht die großen Dinge, die an uns herangetragen werden, sondern Eltern fragen zum Beispiel vor der Einschulung, habt ihr Zucker und Mehl? Ich möchte gerne einen Kuchen backen. Das etwas Elementares fehlt, erfahren wir oft eher in Nebensätzen oder aus der Beobachtung, wenn Kinder zum Beispiel Kleidung tragen, die nicht zum Wetter passt.
Warum ist Ihnen das Engagement für Kinder wichtig?
Kinder können am wenigsten an ihrer Situation etwas verändern. Sie haben keinen Einfluss darauf, in welche Gegebenheiten sie hineingeboren werden, sie sind auf Erwachsenen angewiesen. Das ist ein Ansporn, sie besonders in den Blick zu nehmen und zu unterstützen.
Es gab für mich eine Art Schlüsselerlebnis. Seit einigen Jahren haben wir die Aktion „Herzenswunsch“ ins Leben gerufen. Kinder oder bei kleineren Kindern, die Eltern, können vor Weihnachten einen Wunsch auf ein Herz schreiben, den wir dann über Sponsoren oder Spenderinnen und Spender erfüllen. In den Jahren davor hatten wir immer selbst Geschenke besorgt, meist Puppen oder Autos und gedacht, genau das brauchen Kinder.
Seitdem wir das mit den konkreten Wünschen machen, weiß ich, dass die Realität eine andere ist. Auf den Herzen stehen Wüsche wie: „Ich wünsche mir Hamsterfutter, weil er sonst stirbt“. Oder der Wunsch nach Winterschuhen oder der Füller für einen Linkshänder.
Was mich sehr bewegt hat, war der Wunsch eines Jungen, nach einer eigenen Decke und einem Kopfkissen, weil er sich das Bettzeug mit seinem Bruder teilen muss. Mir ist da sehr deutlich geworden, wie wichtig es ist, dass Hilfe direkt bei den Kindern ankommt. Kinder gehören in die Mitte unserer Gesellschaft. Wir müssen sie mit ihren Bedürfnissen wahrnehmen, darum helfen wir ganz konkret. 2023 haben wir allein 700 Kindern einen Herzenswunsch erfüllt.
Was kann die Tafel für Familien bieten?
Im Tafel-Betrieb ermöglichen wir, dass Familien frisches Obst und Gemüse erhalten, Lebensmittel, die sie sich bei einem normalen Einkauf oft nicht leisten können. Vieles ist dem Preis geschuldet, auch eine Fertigpizza ist in der Regel günstiger als frische Zutaten und ein Toastbrot billiger als ein frisches Körnerbrot. Der Zugang zu guten Lebensmitteln geht somit über die Geldbörse und liegt nicht daran, dass Menschen nicht gern gesund kochen wollen. Aber wenn ich jeden Cent umdrehen muss, dann greife ich eher zum Fertigkartoffelbrei, der günstiger ist als ein Kilo Kartoffeln. Bei der Tafel haben Familien die Möglichkeit, mit frischen Lebensmitteln neue Gerichte auszuprobieren, das kommt auch den Kindern zugute.
Welche Projekte für Kinder unterstützen Sie?
Neben der klassischen Tafel-Arbeit unterstützen wir 14 soziale Organisationen, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Ein bis zwei Mal die Woche bekommen Kindergärten in Brennpunkten zum Beispiel Obst von uns. Der Nachmittagsbetreuung und Hausaufgabenhilfe stellen wir Lebensmittel zusammen, die man gut aus der Hand essen kann, manchmal auch belegte Brote.
Wir arbeiten auch mit Jugendtreffs zusammen, die mit Jugendlichen gemeinsam kochen, um ein Bewusstsein für frische Lebensmittel zu wecken. Pro Woche stellen wir dafür eine Kiste zusammen aus unseren gespendeten Waren. Das ist nicht nur gesund, sondern das gemeinsame Kochen macht den Jugendlichen viel Spaß. Darüber hinaus bekommen acht Grundschulen einmal die Woche von uns frisches Obst. Für manche Kinder ist es die einzige Möglichkeit, mal eine Kiwi oder Mandarine zu essen. Die Schulen, die dieses Schulobstfrühstück anbieten, haben das Thema gesunde Ernährung auch auf ihren Lehrplan aufgenommen.
Sie engagieren sich auch besonders zum Schulstart – warum?
Wir wollen so gut es geht ermöglichen, dass Kinder mit ähnlichen Voraussetzungen in die Schule starten. Wir nennen das Projekt „ein besonderer Tag“, denn der Eintritt in die Schulzeit ist mit vielen Erwartungen verbunden und bleibt dauerhaft in Erinnerung. Doch Schultüte, Schulranzen und Schulmaterialen sind teuer. Ich habe erlebt, dass ein Kind mit einer Discounter-Tüte eingeschult wurde, ein Stigma für die gesamte Schulzeit.
Ich finde, jedes Kind hat das Recht, diesen Tag als einen besonderen zu erleben und sich selbst auch als etwas Besonderes zu fühlen. Darum bekommen schulpflichtige Kinder bei uns entweder einen Schulranzen mit Schulmaterialien oder eine große gefüllte Schultüte und etwas Schönes zum Anziehen. Das können die Eltern vorher entscheiden. Jedes Jahr starten so rund 100 Kinder in die Schule.
Ab der zweiten Klasse bekommen Schulkinder dann elementaren Dinge, die sie für den Unterricht brauchen: einen Collegeblock, Kleber, Schere, Lineal, Geo-Dreieck, Spitzer, Radiergummi, Buntstifte, Bleistifte etc. Die Päckchen werden während der normalen Lebensmittelausgabe verteilt. Das waren 2023 allein 600 zum Schulstart. Eltern sind oft sehr erleichtert, denn sie wissen, sie hätten sich entweder Geld leihen müssen, um zum Beispiel den Schulranzen zu kaufen. Oder sie hätten an anderer Stelle sparen müssen, vielleicht den Strom nicht bezahlen können, was dann wieder neue Probleme mit sich bringt.
Welche Aktion haben Sie zuletzt gestartet?
Unser neues Projekt in den letzten Sommerferien war ein Schwimmkurs. Viele Kinder können nicht schwimmen und ihre Eltern sich keinen Kurs leisten, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, einen Platz zu bekommen. Doch wer in der Schule am Schwimmbeckenrand steht und nicht schwimmen kann, wird leicht ausgegrenzt.
Wir haben viel in Bewegung gesetzt, eine Schwimmhalle und Schwimmlehrerinnen und -lehrer zu finden und wir brauchten viele Ehrenamtliche, die die Kinder betreut haben. Für viele war es der erste Besuch in einem Hallenbad. In zwei Gruppen haben dann 40 Kinder am Schwimmkurs teilgenommen. Damit alle gut starten konnten, hat jedes Kind einen kleinen Rucksack mit Badehose oder Badeanzug, Handtuch und Schwimmbrille bekommen. Es war ein wunderbares Erlebnis für die Kleinen, die ganz stolz am Ende des Kurses ein Abzeichen bekommen haben. Die Kinder gehen gestärkt nach Hause und haben bei allen Schwierigkeiten, die es sonst gibt, viel Spaß gehabt.
Wie stemmen Sie das alles?
Wir haben ein wunderbares Team von rund 300 Ehrenamtlichen, die überall mit anpacken. Das würde ohne diese großartige Unterstützung gar nicht gehen. 2023 haben wir auch ein Kinderaktionsteam gegründet. Und natürlich geht das alles nicht ohne Spenderinnen und Spender. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch die Lidl-Pfandspende hat in der Vergangenheit viel ermöglicht, zum Beispiel das Schulobstfrühstück oder den „besonderen Tag“ zum Schulbeginn. Auch für 2024 habe ich den Antrag für die Finanzierung eines neuen Schwimmkurses über die Lidl-Pfandspende gestellt.
Tafel-Arbeit ist ja immer ein Spagat der Finanzierung. Wir haben zum Glück einige Großspender, mit denen wir im direkten Kontakt stehen, das ist sehr hilfreich. Aber auch für die laufenden Kosten ist Geld notwendig, denn wenn ich meine Autos nicht tanken kann, dann kann ich auch keine Spenden abholen. Aber meist ist es schwieriger, für die laufenden Kosten Spenden einzuholen als für Projekte.
Welche Ideen gibt es für die Zukunft?
Ich würde nächstes Jahr gern ein Sommerfest für Alleinerziehende mit ihren Kindern anbieten, einen sorglosen Tag für eine Zielgruppe, die auf vielfältige Art belastet ist. Die zweite Idee ist ein Sportprojekt, da sind wir im Gespräch mit Sportvereinen aus Gießen und Umgebung. Ich fände es prima, wenn in den Ferien eine Art Sport-Camp angeboten wird und wir von der Tafel dafür Kontingente erwerben könnten – damit alle Kinder die Möglichkeit haben, daran teilzunehmen.
Lidl-Kundinnen und -Kunden spenden Leergutpfand in Höhe von 31 Millionen €
Ob besondere Angebote für Kinder und Jugendliche – wie die Tafel Gießen zeigt –, Projekte für Menschen in Altersarmut, Anschaffungen für die Kühlung von Lebensmitteln, Hygienemaßnahmen oder den Ausbau der Logistik vor Ort, die Lidl-Pfandspende fördert seit 2008 nachhaltig wirksame Projekte der Tafeln.
Deutschlandweit stehen in über 3.250 Lidl-Filialen rund 6.600 Pfandautomaten für die Pfandspende zur Verfügung. Per Spendenknopf können Lidl-Kundinnen und -Kunden bei Rückgabe des Leerguts ihren Pfandbetrag an die Tafel Deutschland spenden, die damit Tafel-Projekte finanziert. Bis März 2024 spendeten die Lidl-Kundinnen und -Kunden insgesamt über 31 Millionen Euro, mit denen bisher über 3.500 lokale Projekte unterstützt werden konnten. Mehr Informationen zum Projekt finden Sie unter tafel.de/pfandspende.
Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2023.