30 Jahre Tafel: (K)ein Grund zum Feiern?

Schwarz-Weiß-Foto von Tafel-Gründerin Sabine Werth, die eine Kiste Zucchini in die Kamera hält.
Tafel-Gründerin Sabine Werth; Foto: Berliner Tafel e.V.

Seit über 30 Jahren verbinden die Tafeln gelebte Solidarität mit ökologischem Handeln. Mit unermüdlichem Engagement sind heute rund 60.000 Helferinnen und Helfer im Einsatz. Auch wenn sich der Kern der Tafel-Arbeit nicht verändert hat: Neben Lebensmittel retten und Menschen unterstützen sind die Angebote der Tafeln von Jahr zu Jahr gewachsen. Heute ist die Tafel-Bewegung eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland. Ihr Einsatz für armutsbetroffene Menschen und einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln ist in diesem Umfang einzigartig.

Die ersten Jahre

Schwarz-Weiß-Foto von Tafel-Helfer:innen

Als Sabine Werth 1993 gemeinsam mit der Initiativgruppe Berliner Frauen die erste Tafel in Berlin gründete, hätte wohl niemand damit gerechnet, dass 30 Jahre später 975 Tafeln in ganz Deutschland ihre Idee fortführen. Sie traf damals wie heute den Nerv der Zeit: Inspiriert vom Konzept der New Yorker City Harvest, schien der Gedanke, überschüssige Lebensmittel einzusammeln und diese an soziale Einrichtungen weiterzugeben, einfach und sinnvoll. Obdachlosenunterkünfte meldeten großen Bedarf an Lebensmitteln an; weitere Einrichtungen wie Frauenhäuser schlossen sich an. Berliner Lebensmittelproduzenten und Einzelhändler signalisierten nach einiger Überzeugungsarbeit der Gründerinnen ihre Unterstützung.

Schwarz-Weiß-Foto von Tafel-Helfer:innen, die Lebensmittel sortieren

Die Tafel-Idee stieß auf großes Medieninteresse und verbreitete sich im ganzen Land. Im Oktober 1994 gründeten sich die Münchner und die Neumünsteraner Tafel. Mit der Gründung der Hamburger Tafel durch die Philanthropin Annemarie Dose im November 1994 setzte sich die Tafel-Bewegung endgültig durch. Der Presserummel steigerte die Bekanntheit der Tafeln enorm und inspirierte viele dazu, ebenfalls eine Tafel zu gründen.

Um Erfahrungen besser miteinander austauschen zu können, gründeten die damals 35 Tafeln am 15. September 1995 den „Dachverband Deutsche Tafelrunde“, der mittlerweile umbenannt wurde in Tafel Deutschland e.V.


Über 970 Tafeln und eine Mission

Heute vereint über 970 Tafeln in Deutschland die gleiche Mission: Sie geben gute Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, an Menschen in Armut weiter. Pro Jahr unterstützen die Tafeln mit rund 265.000 Tonnen Obst, Milchprodukten, Brot und Co bis zu zwei Millionen Menschen. Doch Armut ist mehr als materieller Mangel. Deshalb entwickeln viele Tafeln neben der Lebensmittelausgabe seit Jahren zusätzliche Angebote für armutsbetroffene Menschen. Dazu gehören unter anderem Projekte wie Kochkurse, Schreibwerkstätten oder Bildungsangebote für Kinder.

Die Tafeln schaffen damit Orte der Begegnung und ermöglichen soziale Teilhabe, die Menschen in Armut oft verwehrt bleiben. Wer jeden Cent drei Mal umdrehen muss, hat kein Geld für Freizeitbeschäftigungen, für Sport oder gemeinsame Unternehmungen mit der Familie. Seit dem Jubiläumsjahr fördert Tafel Deutschland über das Projekt „Tafel stärkt Senior:innen“ gezielt ältere Menschen. Kulturelle Angebote ermöglichen ihnen einen Weg aus der Einsamkeit.

Ein junges Mädchen und eine Rentnerin basteln zusammen.
Mit Teilhabe-Projekten unterstützen Tafeln u.a. Kinder und Senior:innen. Foto: Philip Wilson

Politisch fordern, sozial handeln

30 Jahre Tafel bedeuten aber nicht nur 30 Jahre beeindruckendes ehrenamtliches Engagement. Sie zeigen auch, dass die politischen Maßnahmen gegen Armut und Lebensmittelverschwendung seit drei Jahrzehnten nicht ausreichen, um nachhaltige Veränderungen zu schaffen. Immer mehr Menschen leben in Armut, immer mehr Menschen sind auf die Unterstützung der Tafel angewiesen. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise bringen viele an ihre Grenzen. Mit politischen Forderungen nach armutssicheren Gehältern, Renten und Sozialleistungen setzt sich Tafel Deutschland seit Jahren für eine sozial gerechte und nachhaltige Gesellschaft ein.

Ein Schwerpunkt bildet dabei der Abbau von Kinderarmut. Schon heute ist in Deutschland jedes fünfte Kind von Armut bedroht, oft mit dramatischen Folgen: Kinder aus armutsbetroffenen Familien haben geringere Bildungschancen und ein deutlich höheres Risiko, später selbst in Armut zu leben. Dennoch hat die Bundesregierung die 2023 beschlossene Kindergrundsicherung nicht mit genug Budget ausgestattet, um Kinderarmut zu bekämpfen und allen Kindern einen gleichberechtigten Start ins Leben zu ermöglichen. Tafel Deutschland ist enttäuscht von dieser Entscheidung und wird sich weiter für die Rechte armutsbetroffener Kinder starkmachen.

Tafeln für die Zukunft stärken

Trotz aller Herausforderungen tragen Hoffnung, Zuversicht und Solidarität die Tafel-Arbeit. In den vergangenen Jahren wurden viele Weichen für die Zukunft gestellt: Hilfsmittel wie Digitale Lieferscheine und die eco-Plattform erleichtern den Einsatz der Lebensmittelretterinnen und -retter. Die Tafel-Akademie fördert Menschen, die die verantwortungsvolle Aufgabe einer Tafel-Leitung übernehmen wollen. Das Projekt „Engagement – Neudenken!“ erkundet neue Wege, um Freiwillige für die Tafeln zu gewinnen.

Generationenübergreifendes Engagement und die Nachwuchsarbeit gewinnen an Bedeutung. 2015 wurde in Göttingen die erste Junge Tafel gegründet. Heute ist die Tafel Jugend bundesweit aktiv und vernetzt Jugendliche und junge Erwachsene bis 35 Jahre, die sich bei einer Tafel engagieren. Mit der Wahl der ersten Jugendbeisitzerin bringt die Tafel Jugend ihre Ideen und Erfahrungen nun auch im Vorstand der Tafel Deutschland ein.

Zusammenhalt fördern, politische Maßnahmen fordern

Als zivilgesellschaftliche Initiative leistet die Tafel-Bewegung einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag, fördert soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit ihrem anhaltend großen Engagement bringen die Tafel-Aktiven die Themen Armut und Lebensmittelverschwendung in die Öffentlichkeit. Hinter beiden Themen stecken strukturelle Probleme, die der Staat mit nachhaltigen Maßnahmen lösen muss.

Tafeln sind Anlaufstellen für Menschen, die helfen möchten, und Menschen, die Hilfe benötigen. Sie überbrücken Notsituationen, können und wollen aber keine dauerhafte Existenzhilfe bieten. Nach 30 Jahren Tafeln gibt es unzählige Gründe, die vielen Engagierten für beeindruckenden Einsatz zu feiern. Und noch mehr Gründe, mit jedem geretteten Lebensmittel und jedem unterstützten Menschen von der Politik mehr ökologischen und sozialen Einsatz zu fordern.


Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2023.

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