Ode an die Solidarität

Eine Tafel-Helferin, die vor Kühlschränken voller Lebensmittel steht, überreicht einem Ehepaar lächelnd Kühlware.

Foto: Reiner Pfisterer

Die Ängste und Sorgen vieler Menschen in unserer Gesellschaft waren in den vergangenen 70 Jahren selten größer als heute. Bis in die Mittelschicht hinein müssen viele ihren Lebensstandard erheblich einschränken, weil höhere Preise für Energie und Nahrungsmittel einen zusätzlichen Teil ihres verfügbaren Einkommens auffressen. Viele Unternehmen wissen nicht, ob sie nach vier Jahren Dauerkrise eine Zukunft haben und weiterhin gute Arbeitsplätze bereitstellen können. Die gesellschaftliche Spaltung nimmt zu und das Wirtschaftsmodell Deutschlands steht auf dem Spiel, schreibt Professor Marcel Fratzscher in seinem Gastbeitrag.

Deutschland und Europa haben in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Krisen und Umbrüche bewältigen müssen – nicht nur die Pandemie, sondern auch die globale Finanz- und die europäische Schuldenkrise, die von 2008 bis 2014 reichte, oder die Wiedervereinigung Anfang der Neunzigerjahre. Und wir haben diese Krisen und Umbrüche – nicht immer, aber meist – gut gemeistert und sind gestärkt aus ihnen hervorgegangen. Die Frage sollte heute daher sein:

Was brauchen wir, um die gegenwärtigen Krisen erfolgreich zu bewältigen, und was hat uns in der Vergangenheit stark gemacht?

Unsere vielleicht wichtigste Stärke ist die Solidarität. Es ist der gesellschaftliche Zusammenhalt, der Schutz der verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft, das Miteinander als Grundorientierung unseres Handelns. Solidarität bedeutet nicht nur die Absicherung der wirtschaftlichen Existenz, also von der Ernährung und einem Dach über dem Kopf bis hin zu einer guten gesundheitlichen Versorgung und einer Absicherung im Krankheitsfall und im Alter. Solidarität bedeutet auch Inklusion und soziale Teilhabe, die Möglichkeit für jeden und jede, eine Rolle in der Gemeinschaft zu haben. Es bedeutet Respekt und Anerkennung für die eigene Leistung. Es bedeutet Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt und jeglichen Unterschieden – sei es bei Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität und Orientierung, Religion und so vielen anderen Bereichen. Eine so definierte Solidarität ist Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen sich produktiv in die Gesellschaft einbringen können, Risiken für sich und ihre Familie tragen und damit die Demokratie weiter entwickeln können.

Zwischen Darwins Individualismus und Kropotkins Solidarität

Vor mehr als 100 Jahren fand ein heftiger intellektueller Streit zwischen den Anhängern von Charles Darwin und Pjotr Kropotkin statt, einem russischen Philosophen und Naturforscher. Die Anhänger Darwins behaupteten, das beste Gesellschaftsmodell, um große Krisen zu bewältigen, finde sich in hochindividualistischen Gesellschaften mit großem Fokus auf Selektion und das Durchsetzen der Stärksten. Kropotkin dagegen stellte die Hypothese auf, solidarische Gesellschaften könnten Krisen besser meistern.

Über 100 Jahre und Hunderte von wissenschaftlichen Studien später zeigt sich recht eindeutig, dass Kropotkin richtig und die Anhängerinnen und Anhänger Darwins falsch lagen. Ob Naturkatastrophen, Kriege, Pandemien, gesellschaftliche Umbrüche oder große Wirtschafts- und Finanzkrisen: Fast immer haben solidarische Gesellschaften Krisen besser gemeistert als individualistische Gesellschaften. Dies gilt nicht nur für die wirtschaftliche und soziale Dimension, also die Stabilisierung und Befriedigung der Grundbedürfnisse, sondern auch für die politische Dimension. Solidarität ist eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Denn Menschen beugen sich der Mehrheit eher dann, wenn sie Akzeptanz für die Anliegen anderer und Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben.

Solidarität kann nicht vom Staat verordnet werden

Die Solidarität ist gerade in unseren europäischen Gesellschaften, mit einer sozialen Ausgestaltung der Marktwirtschaft und einem starken Sozialstaat, ein besonders hoher Wert. Sie ist ein wichtiger Grund, wieso auch Deutschland die Pandemie in der Wahrnehmung vieler besser bewältigt hat als beispielsweise die USA. Auch wenn die wirtschaftliche Erholung stärker und die Einschränkung individueller Freiheit in den USA deutlich geringer waren als in Deutschland: In kaum einem reichen Industrieland waren Todesrate und gesundheitliche Versorgung so ungleich und unsolidarisch verteilt wie in den USA.

Solidarität kann nicht vom Staat verordnet werden, sondern muss von den Menschen in ihrem täglichen Zusammenleben entstehen. Es gibt unzählige gesellschaftliche Institutionen, von Vereinen über kirchliche Organisationen bis hin zu sozialen Einrichtungen, in denen sich Millionen von Menschen in Deutschland regelmäßig engagieren. Diese Institutionen und Initiativen sind vielleicht die wichtigste Säule, auf die wir in diesen schwierigen Zeiten bauen können. Laut des aktuellsten Freiwilligensurvey aus dem Jahr 2019 engagieren sich in Deutschland 28,8 Millionen Menschen freiwillig – das sind 39,7 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren.

Solidarität prägt die tafel-Arbeit: Eine Ehrenamtliche spricht mit einer Tafel-Kundin.
Foto: Reiner Pfisterer

Die Tafeln handeln, wo der Staat versagt

Exemplarisch für diese Institutionen stehen die Tafeln Deutschlands. Sie unterstützen mit Lebensmitteln Millionen Menschen in Deutschland, die von der Krise betroffen sind und zu wenig Einkommen und Rücklagen haben, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Eine Studie des DIW Berlin zeigt, dass es zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 schätzungsweise knapp 1,1 Millionen Menschen waren, die regelmäßig die Tafel besuchen mussten. Mittlerweile sind es nach Angaben der Tafel Deutschland 1,6 bis 2 Millionen Menschen. Die Betroffenen gehören zu den verletzlichsten unserer Gesellschaft. Sie haben häufig auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen, Verantwortung für Kinder oder gesundheitliche Probleme. Es sind vor allem Frauen und alleinerziehende Mütter, viele von ihnen Geflüchtete aus der Ukraine, Menschen in strukturschwachen Regionen und Städten und ältere Menschen, die trotz jahrzehntelanger Arbeit von der gesetzlichen Rente nicht leben können.

Die Tafeln handeln dort, wo der Staat versagt. Denn nach dem Grundgesetz ist es die Aufgabe des Staats für jede und jeden das Existenzminimum zu gewährleisten. Mit dem starken Anstieg der Preise – Lebensmittel sind in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als 20 Prozent teurer geworden – hat sich der Anteil derjenigen, die die Tafeln in Anspruch nehmen müssen, stark erhöht. Dabei haben es sich die Tafeln zum Auftrag gemacht, vor allem Lebensmittel zu retten, die sonst im Handel oder bei Lebensmittelherstellern vernichtet worden wären. Sie helfen damit, ein Versagen des Marktes zu korrigieren, da Unternehmen aus finanziellen oder hygienischen Gründen viele Lebensmittel wegwerfen müssen. Berechnungen zufolge werden trotzdem in Deutschland heute noch 30 Prozent aller Lebensmittel weggeworfen oder verschwendet. Somit haben die Tafeln eine wichtige Vorreiterrolle auch bei der Nachhaltigkeit.

Sirkka Jendis und Marcel Fratzscher im Gespräch
Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, im Gespräch mit Marcel Fratzscher

Für akute Krisen und langfristige Herausforderungen

60.000 Helferinnen und Helfer engagieren sich bei den über 970 Tafeln. Dies sind Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft. Es sind häufig Menschen, die selbst auf Solidarität angewiesen sind. Und es sind nicht selten solche, die in der Vergangenheit die Tafeln aufsuchen mussten und gut nachvollziehen können, was es bedeutet, in Not zu geraten und das Stigma und den eigenen Stolz zu überwinden, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Tafeln sind nur eine von Tausenden Institutionen, die Solidarität in unserem täglichen Leben verankern und einen essenziellen Teil unserer Identität und unserer Gesellschaft ausmachen.

Die Solidarität ist mit die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir Krisen wie die Pandemie, den Krieg und die Inflation meistern können. Gleichzeitig ist die Solidarität unsere größte Stärke, um die großen Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation erfolgreich zu gestalten und unserer globalen Verantwortung gerecht zu werden. Denn wirkliche Solidarität lässt sich nicht auf das Hier und Heute und auf unsere Nachbarn beschränken, sondern muss auch künftigen Generationen und anderen Menschen dieser Welt gelten, denen wir nie begegnen. Es gibt gute Gründe, mit Pessimismus, aber noch bessere Gründe, um mit Optimismus in die Zukunft zu schauen. Einer der besten Gründe ist unsere Fähigkeit zur Solidarität.


Portrait Marcel Fratzscher

Professor Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität Berlin. Seine Forschung fokussiert sich auf die Themen Makroökonomie und Finanzmärkte, Ungleichheit, Globalisierung und die Integration Europas. Er ist u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) und Mitglied des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. Seit Sommer 2023 ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Tafel Deutschland.


Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2023.

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