Armut in Pandemie-Zeiten

© FUNKE Foto Services/Stefan Arend

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Tafel Deutschland, Jochen Brühl, über mangelnde Unterstützung armer Menschen während der Corona-Pandemie und die
Verantwortung des Einzelnen im Umgang mit Mensch und Umwelt.

Wenig Kontakt, Rückzug ins eigene Zuhause, Eintönigkeit – und keine Perspektive, wann das endet. Haben wir in der Zeit des Lockdowns als Gesellschaft erlebt, wie sich der Alltag armer Menschen anfühlt?

Viele haben erlebt, dass es sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt, wenn wir unser Leben nicht so gestalten können, wie wir es möchten. Dennoch hatten die meisten von uns bei allen Einschränkungen deutlich mehr Möglichkeiten und weniger Sorgen. Arme Menschen haben wenig bis keine Optionen. Ich finde: Armut beschneidet Freiheit. Manche Kinder aus armutsbetroffenen Familien werden nie die Chance haben, zu studieren oder in ihrem Traumberuf zu arbeiten. Die Pandemie verschärft ihre Situation, denn neben Einschränkungen, die uns alle treffen, haben beispielsweise arme Kinder meist weder die technische Ausstattung für Home-Schooling noch die mentale Unterstützung und Hilfe ihrer Eltern.

Tafeln sind eine Anlaufstelle und ein Begegnungsort. Viele der Kundinnen und Kunden, die älter sind oder zur Risikogruppe gehören, kommen während der Pandemie nicht mehr. Sind die Probleme armer Menschen in dieser Zeit viel größer als wir wahrnehmen?

Es besorgt mich sehr, dass Armut während der Coronakrise zunehmend im Verborgenen stattfindet. Armut hat immer eine Vereinsamungstendenz, jetzt verschärft sich das. Viele schämen sich und versuchen ihre Situation zu vertuschen. Tafeln und andere soziale Einrichtungen schaffen es, die Menschen ein wenig aus ihrer Einsamkeit herauszuholen. Dieser Aspekt unserer Arbeit wäre gerade wichtiger denn je, doch mit weniger Ehrenamtlichen, gestiegenem Aufwand bei der Lebensmittelverteilung und bestehenden Kontaktbeschränkungen erreichen wir nicht mehr alle Menschen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass wir Menschen auf der Strecke lassen.

1,65 Millionen Menschen gehen zur Tafel. Über 13 Millionen Menschen sind von Armut bedroht oder betroffen, das ist eine wahnsinnig hohe Zahl.

Ich finde es mutig, wenn Menschen zur Tafel kommen. Es ist eine Ressource, die Menschen nutzen – das ist ein kleines Maß an Selbstbestimmung, die man sich schaffen und von der man profitieren kann. Wir reden ja noch nicht mal von Hobbys oder schönen Momenten, die den Menschen zustehen sollten – dabei sollten sie! Es geht stattdessen um das Nötigste wie Lebensmittel und Kleidung. Aus Sicht der Tafeln finde ich es deshalb sehr wichtig, dass wir unkompliziert helfen, aber eben auch laut werden für arme Menschen im politischen Diskurs. Dazu gehört zuallererst, Armut überhaupt sichtbar zu machen.

Wir diskutieren mit Ausdauer, welche Rolle Tafeln im Sozialstaat übernehmen. Wir selbst möchten ein entlastendes, ressourcenorientiertes Zusatzangebot sein, aber keine notwendige Existenzhilfe. In der Krise ist sehr deutlich geworden, wie systemrelevant Tafeln sind. Plötzlich wurde nicht mehr geleugnet, dass es Menschen gibt, die auf die Hilfe der Tafeln angewiesen sind, weil die staatlichen Leistungen einfach nicht ausreichen. Ein solches Eingeständnis aus der Politik haben wir vorher jahrelang vermisst.

Wer oder was systemrelevant ist, ist immer eine Frage des Blickwinkels. Am Ende ist es so: Unsere Erde und wir Menschen sind systemrelevant. Davon muss sich alles andere ableiten. Tafeln können die Gesellschaft nicht nachhaltig verändern, aber sie machen Missstände deutlich. Das ist mir ganz wichtig. Eine Gesellschaft, die mit einer Verknappung von Ressourcen zu kämpfen hat, die weiß, dass sie sich angesichts des Klimawandels anders verhalten und wirtschaften muss, geht damit um, als gäbe es kein Morgen. Jedes dritte Lebensmittel, das weltweit produziert wird, wird vernichtet. Und auf der anderen Seite sehen wir, dass es Not und Mangel bei uns gibt. Das ist doch eine – ich würde fast sagen – Versündigung an Mensch und Umwelt. Das macht mich wütend.

Dieses Phänomen beobachten wir ja auch in der Corona-Pandemie, dass Menschen bei ihren Abwägungen und Entscheidungen zuerst sich selbst im Blick haben und nicht so sehr, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind. Dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Umfeld schaden könnten, wenn sie in Zeiten der Kontaktbeschränkung Partys feiern …

… oder keine Maske tragen, mit dem Argument, dass sie dadurch nicht geschützt würden. Aber mich als Gegenüber schützt die Maske doch! Und das ist genau der Punkt: Mein Verhalten hat Konsequenzen für meine Mitmenschen, für die Umwelt und für die Gesellschaft, sei es in der Flüchtlingskrise, beim Klima, bei Lebensmitteln oder Armut. Ich glaube, dass jede und jeder Einzelne und jedes System seine Verantwortlichkeit erkennen und wahrnehmen muss, damit sich nachhaltig etwas zum Guten verändert. Wir dürfen uns nicht immer reaktiv verhalten, sondern müssen weitsichtig fragen: Wo wollen wir eigentlich hin mit unserer Gesellschaft? Ich bin immer noch davon überzeugt, dass wir es selbst in der Hand haben. Dafür sind unsere 60.000 Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen bei den Tafeln ein Vorbild und eine Hoffnung.

Der Dachverband ist im letzten Jahr 25 Jahre geworden, die Tafeln gibt es seit 28 Jahren. Ist die Corona-Pandemie die größte Herausforderung, die die Tafeln jemals hatten?

Spontan: Ja. Fast die Hälfte der Tafeln hatte zwischenzeitlich geschlossen. Aber ich sehe, dass die Tafel-Bewegung schon immer in einer herausfordernden Situation war. Wir haben das beispielsweise auch 2015 gesagt, als plötzlich 280.000 Geflüchtete zu den Tafeln kamen. Da haben Tafeln Unglaubliches geleistet und das tun sie auch jetzt. Aber nicht nur die Tafeln, sondern unsere Gesellschaft steht vor einer riesigen Herausforderung. Die gesellschaftlichen Themen dürfen ja nicht bei den Tafeln abgeladen werden. Die Politik doktert an den Folgen herum, statt an die Ursachen zu gehen. Grundrente, Grundeinkommen – da muss eine Gesellschaft weiterdenken. Auch Lebensmittelverschwendung, Klimaschutz – das sind ja Themen, die eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Man muss uns als Tafeln unterstützen, weil wir an gesellschaftlichen Problemen arbeiten. Aber gleichzeitig muss die Politik Armut bekämpfen und armen Menschen helfen. Das passiert in der Krise viel zu wenig. Nicht mal 100 Euro mehr für arme Menschen hat es kurzfristig gegeben, obwohl Kosten für Ernährung durch wegfallendes Schul- und Kita-Essen und fehlende Mittagstische gestiegen sind. Ich kann nicht mehr hören, wie toll die Tafeln sind, wie schlimm es aber ist, dass es sie geben muss – während unsere Forderungen zur Armutsbekämpfung nicht ernst genommen werden.

Das Gespräch erschien im Tafel-Magazin 2020.

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