Corona-Pandemie verschärft Ernährungsunsicherheit

Mittagstisch Tafel in Siegburg


© Siegburger Tafel

Internationale Studien zeigen, dass insbesondere für sozioökonomisch benachteiligte Menschen die Ernährungsunsicherheit in Folge der Corona-Pandemie zugenommen hat. Auch in Deutschland lassen sich ähnliche Tendenzen vermuten. Die gesundheitliche Ungleichheit nimmt zu.

Gastbeitrag von Dr. Anja Simmet, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Angewandte Ernährungspsychologie der Universität Hohenheim

Die sozialen Auswirkungen der in der jüngeren Geschichte beispiellosen Pandemie betreffen nahezu alle gesellschaftlichen Schichten, insbesondere jedoch sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Tafel-Kundinnen und -Kunden. Viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden beendet, das Einkommen aus Kurzarbeit bei Menschen mit ohnehin niedrigem Einkommen reicht oft nicht mehr für die Miete und offene Rechnungen, Kindern ökonomisch benachteiligter Haushalte fehlen materielle Ressourcen und z.T. elterliche Unterstützung bei der Bewältigung eines präsenzlosen Schulunterrichts.

Die Liste der sozialen Folgen der Pandemie ist lang und in ihrer Gänze noch nicht erfasst. Erste, noch mit Vorsicht zu interpretierende Ergebnisse liegen hingegen zu den Auswirkungen auf die Ernährung der Bevölkerung vor. So zeigte eine Forsa-Befragung des Else-Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin unter 1.000 Familien mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren zunächst einen erfreulichen Befund: 14 Prozent der im September 2020 befragten Teilnehmenden gaben an, sich während der Pandemie gesünder zu ernähren, wohingegen nur sieben Prozent berichteten, sich schlechter zu ernähren [1].

Allerdings hängt die selbstberichtete gesündere Ernährung unmittelbar mit der Möglichkeit zum Homeoffice zusammen und diese ist wiederum abhängig vom Nettoeinkommen und dem Bildungsstand [1]. So gaben Menschen mit niedrigem Einkommen und/oder niedriger Schulbildung im Vergleich zu Menschen mit höherem Einkommen und/oder höherer Schulbildung deutlich häufiger an, seit Beginn der Pandemie nicht im Homeoffice gewesen zu sein. Auch die Entwicklung des Körpergewichts der Kinder im Haushalt hängt unmittelbar mit dem Bildungsstand der Eltern zusammen: während „nur“ rund sieben Prozent der Kinder von Eltern mit höherem Schulabschluss seit Beginn der Pandemie zugenommen haben, betrifft dies rund 23 Prozent der Kinder von Eltern mit niedrigem Schulabschluss [1].

Ursächlich dafür werden vor allem eine Abnahme der Bewegung und der Mehr-Verzehr von z.B. Knabberartikeln und Süßwaren sowie Kuchen gesehen. Einschränkend ist festzuhalten, dass diese Studie auf Selbstauskunft der Teilnehmenden basiert und vermutlich nur unzureichend Menschen am unteren Rand des sozioökonomischen Gradienten wie Tafel-Kundinnen und -Kunden abbildet.

Die ernährungsbezogenen Herausforderungen dieser Bevölkerungsgruppe in den Blick genommen haben hingegen Studien in den USA und Großbritannien. Demnach leidet seit Beginn der Pandemie ein deutlich höherer Anteil der Bevölkerung an sogenannter Ernährungsunsicherheit [2,3]. Ernährungsunsichere Menschen sorgen sich, dass ihr Geld am Ende des Einkommensmonats nicht mehr für Lebensmittel ausreicht. Im schlimmsten Fall werden die Qualität, Varietät und schließlich die Quantität verzehrter Lebensmittel eingeschränkt. Ernährungsunsicherheit ist nicht nur mit der Tendenz zu einer ungesünderen Ernährung und zahlreichen chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Adipositas und Depressionen verbunden, sondern z.B. auch mit der Fähigkeit einen empfohlenen Zwei-Wochen-Vorrat an Lebensmitteln zu kaufen [2].

Zwar können die Ergebnisse der Studien nicht direkt auf Deutschland übertragen werden, allerdings lassen sich ähnliche Tendenzen und Zusammenhänge auch hierzulande vermuten. Dies ist vor dem Hintergrund, dass zeitweise knapp die Hälfte aller Tafeln geschlossen war, besonders dramatisch. Schließlich waren gemäß einer Studie unter rund 1.000 Tafel-Kundinnen und -Kunden schon vor der Pandemie über 70 Prozent der Teilnehmenden ernährungsunsicher [4]. Die größten Risiken für Ernährungsunsicherheit sind Armut sowie finanzielle und psychosoziale Belastungen.

Diese Risiken abzufedern und allen Menschen Zugang zu ausreichend Lebensmitteln zu ermöglichen, ist nicht Aufgabe der Tafeln. Vielmehr bleibt die Lösung des Problems gerade in diesen Zeiten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, damit die Schere der gesundheitlichen Ungleichheit nicht noch weiter auseinandergeht.

Der Gastbeitrag erschien im Tafel-Magazin 2020.


Quellen: [1] EKFZ Ernährungsmedizin. Pressekonferenz | Expertengespräch zur Forsa-Studie: Lebensstil und Ernährung in Corona-Zeiten [Internet]. 2020 Okt 16 [zitiert 27. Oktober 2020]. Verfügbar unter: https://www.ekfz.tum.de/fileadmin/PDF/PPT__EKFZ_und_Forsa_Final2.pdf [2] Wolfson JA, Leung CW. Food Insecurity and COVID-19: Disparities in Early Effects for US Adults. Nutrients. 2. Juni 2020;12(6). [3] Loopstra R. Vulnerability to food insecurity since the COVID-19 lockdown – Preliminary report [Internet]. London: King’s College London; 2020 Apr [zitiert 8. September 2020]. Verfügbar unter: https://foodfoundation.org.uk/publication/vulnerability-to-food-insecurity-since-the-covid-19-lockdown/ [4] Depa J, Gyngell F, Müller A, Eleraky L, Hilzendegen C, Stroebele-Benschop N. Prevalence of food insecurity among food bank users in Germany and its association with population characteristics. Prev Med Rep. März 2018;9:96–101.

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