©Navina Neuschl
Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, über die Missstände in der Politik und Gesellschaft, die im Laufe der Pandemie deutlicher denn je sichtbar wurden.
Die Corona-Krise verdichtet wie ein Brennglas all das, was sowieso schief läuft in unserer Gesellschaft. Ein zugegeben viel genutztes, weil zutreffendes Sprachbild im letzten Jahr. Es ist ein echter Skandal und gleichzeitig keine Überraschung, wie die Politik während der Pandemie mit den Ärmsten umgegangen ist. Viele politische Grund- und Glaubenssätze wurden während der Corona-Krise zu Recht über Bord geworfen. Die Bundesregierung und die Länder haben enorme finanzielle Mittel bereitgestellt, um zu helfen. Nur nicht für diejenigen, die es am nötigsten gebraucht hätten.
Wie kann das sein?
Die Missachtung, gepaart mit der Hoffnung, dass sich irgendjemand schon kümmern wird und die Menschen irgendwie klarkommen werden, verdeutlicht wieder einmal den geringen Stellenwert von Armen in unserer Gesellschaft. Noch immer begegnen wir zu häufig dem Vorurteil, dass arme Menschen selbst schuld an ihrer Situation seien. In den allermeisten Fällen ist das zynisch. Jeder Dritte der 12 bis 15 Millionen armen Menschen in Deutschland arbeitet. 76 Prozent (!) der ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger sind nicht arbeitslos, wie der Begriff „Langzeitarbeitslos“ suggeriert, sondern stocken mit der Sozialleistung ihr Einkommen auf. Ihr Anteil bei den Tafeln ist im letzten Jahr drastisch gestiegen, um bis zu 33 Prozent.
Vier bis fünf Millionen Menschen also arbeiten und können davon nicht leben. Viele weitere Millionen sind arm, weil sie ihre Kinder allein erziehen, weil sie in Familien mit vielen Mitgliedern leben, weil sie krank sind oder weil sie zugewandert sind. Nicht leben können vom eigenen Geld, was bedeutet das? Sie können nicht einmal das Notwendigste finanzieren: Wohnraum und Essen oder auch die Bildung der Kinder. Von gesellschaftlicher Teilhabe, von Freizeit, Urlaub oder privater Altersvorsorge reden wir gar nicht.
All das bedeutet auch: Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf oder ist unmittelbar von ihr bedroht. Armut, die nicht nur finanzielle Sorgen bedeutet, sondern auch Einfluss auf die Zukunftsaussichten nimmt: Kinder aus armutsbetroffenen Familien haben schlechtere Chancen auf eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium und studieren im Durchschnitt seltener als Kinder aus wohlhabenderen Familien. Armut bedeutet, häufiger krank zu sein und eine geringere Lebenserwartung zu haben. Armut bedeutet, ohne Perspektiven zu sein und an vielem nicht teilhaben zu können, was Kinder so dringend benötigen, um zu starken Erwachsenen zu reifen: Freundschaften, Sport im Verein, Klassenfahrten oder das Teilnehmen an Geburtstagsfeiern und ja, auch den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt oder im Kino. In all den Jahren meines Tafel-Engagements habe ich mich gefragt, wo der breite gesellschaftliche Aufschrei bleibt, wann die dramatischen Auswirkungen von Armut gesehen werden.
Was macht es denn mit den Menschen, wenn sie sich anstrengen, aber nicht schaffen, unabhängig von staatlichen Leistungen (und natürlich auch Sanktionen!) zu sein? Wir dürfen uns nicht wundern über massive Frustration, mangelndes Selbstwertgefühl, psychische Erkrankungen und über das Gefühl, von „der Politik“ nicht richtig repräsentiert zu werden. Es ist gefährlich, wenn demokratisch gewählte Parteien und Abgeordnete eine ganze Bevölkerungsschicht nicht (mehr) ansprechen und so frustriert zurücklassen, dass sie oftmals gar nicht wählen geht. Spätestens hier sollte uns klar werden, dass Armut uns alle angeht.
Die neue Bundesregierung und wir alle stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Eine davon ist die Armut in unserem Land. Sie darf nicht weiter übersehen werden angesichts noch größer wirkender Probleme. Voraussichtlich 2025 werden wir wieder eine neue Bundesregierung wählen. Den Dachverband der Tafeln wird es dann seit 30 Jahren geben. Ganz sicher werden wir noch viel älter. Aber ich wünsche mir, dass wir dann keine existenziellen Hilfen mehr leisten müssen.
Die Politik könnte Armut in dieser Legislaturperiode abschaffen, sie muss es nur tun. Dafür müssen Löhne steigen, die ALG-II-Sätze (oder andere Sozialleistungen) müssen deutlich höher sein, Kinder brauchen endlich eine Kindergrundsicherung und kostenfreie, hochwertige Bildung von der Kita bis zur Universität. Ja, das alles kostet Geld. Aber wir können es uns nicht leisten, dass Millionen Menschen nicht teilhaben an unserer Gesellschaft und dass Kinder kaum eine Chance haben, sich aus einem Leben in Armut zu befreien. Immer wieder hören wir von Politikerinnen und Politikern den Satz: „Es ist beschämend, dass es die Tafeln geben muss.“ Ich antworte dann gerne: „Es liegt in eurer Hand, das zu ändern. Schafft Armut endlich ab.“
Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2021.