Fotos: Philip Wilson
Die Corona-Pandemie hält an, zusätzlich belasten Inflation, Kriegsfolgen und steigende Preise die Menschen. Um aus den Krisen und deren Auswirkung auf die Arbeit von Hilfsorganisationen zu lernen, trafen sich Engagierte der europäischen Tafeln und Lebensmittelbanken im Oktober 2022 zum FEBA-Kongress in Berlin.
„Ich glaube fest daran, dass wir gerade in Krisenzeiten an einem Strang ziehen müssen“, erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, zur Eröffnung des Kongresses der europäischen Tafeln und Lebensmittelbanken in Berlin. „Ich glaube daran, dass wir als Zivilgesellschaft auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene ein Leuchtturm sind und bleiben sollten. Ein Leuchtturm, der aufzeigt, wie Solidarität und Tatkraft genutzt werden können.“
Solidarität und Tatkraft prägen die Tafel-Arbeit auch in Krisenzeiten, wie Engagierte aus ganz Europa verdeutlichten. Der Verband der europäischen Tafeln und Lebensmittelbanken (European Food Banks Federation, kurz FEBA) organisierte den dreitägigen Kongress im Oktober 2022 zusammen mit Tafel Deutschland. Unter dem Motto „Europa in der Krise, Tafeln im Einsatz“ trafen sich 151 deutsche Tafel-Aktive mit 75 FEBA-Delegierten aus 28 Ländern in Berlin für einen angeregten internationalen Austausch.
Krisen, die die Tafel-Arbeit beeinflussen
Welche Krise belastet die Tafel-Arbeit momentan am meisten? Das fragte Marco Koppe, Geschäftsführer der Tafel Deutschland und der Tafel-Akademie, die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Tafeln am ersten Kongresstag. Sie schrieben die aus ihrer Sicht drängendste Krise auf blaue und gelbe Zettel und hielten sie in die Höhe. Ukraine, Inflation, Krieg, Geflüchtete, aber auch Lebensmittelknappheit und Lieferketten, steigende Nachfrage und Armut stehen dort zu lesen. Ein Blick in den Saal zeigt, dass alle ohne zu zögern eine große Herausforderung aufschreiben.
Seit über zwei Jahren multiplizieren sich die Krisen und verschärfen die Lebensituation der Menschen immer weiter. Betroffen sind vor allem diejenigen die ohnehin wenig haben. Organisationen wie die Tafeln spüren die zunehmende Not unmittelbar, da immer mehr Menschen Hilfe suchen.
Seit 2018 ist Tafel Deutschland Mitglied der FEBA; Jochen Brühl engagiert sich auch in deren Vorstand. Die FEBA unterstützt die europäischen Tafeln und Lebensmittelbanken in ihrem Engagement, indem sie unter anderem Spenden sammelt, Netzwerke aufbaut und einen internationalen Austausch wie hier beim jährlichen FEBA-Kongress ermöglicht.
FEBA-Kongress in Berlin zeigt internationale Krisen-Erfahrungen
„Die steigende Inflation, steigende Preise für Lebensmittel, steigende Energiekosten üben einen unzumutbaren Druck auf die Budgets privater Haushalte aus und Hilfsorganisationen werden mit einer steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln konfrontiert. Die FEBA-Mitglieder spüren zugleich einen deutlichen Rückgang der Lebensmittelspenden“, erklärte FEBA-Präsident Jacques Vandenschrik in seiner Eröffnungsrede. „Wir erleben eine triefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft.“
Wie gehen die Tafeln und Lebensmittelbanken mit dieser Veränderung um? Das zeigten Vertreterinnen und Vertreter an konkreten Beispielen. In Italien musste 2020 wegen der Corona-Pandemie beispielsweise der landesweite Tag der Lebensmittelspenden abgesagt werden, bei dem die Banco Alimentare in den Jahren zuvor rund 8.000 Tonnen Spenden erhalten hatte. Ein riesiger Verlust, denn gleichzeitig stieg die Nachfrage nach Unterstützung um bis zu 60 Prozent. Salvatore Maggiori, Geschäftsführer einer Stiftung zugunsten der italienischen Lebensmittelbanken, erzählte von einer alternativen Aktion, die die Beteiligten kurzfristig auf die Beine stellten: Dabei konnten die Menschen in den Läden von 33 italienischen Supermarktketten landesweit Spendenkarten kaufen. So kamen insgesamt 4,3 Millionen Euro zusammen, mit denen die italienischen Lebensmittelbanken 2.500 Tonnen Lebensmittel kaufen konnten.
Lebensmittelbank in der Ukraine: Engagement in unberechenbarer, schrecklicher Umgebung
Nadiya Borysenko, Gründerin der Kyiv City Charity Foundation “Food Bank”, berichtete von viel Solidarität, die die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges erfuhr: Viele Geld- und Lebensmittelspenden erreichten sie. Auch die FEBA-Mitglieder unterstützen die Lebensmittelbank sowie die Menschen in der Ukraine. „Unser erfahrenes Team der Lebensmittelbank hat von Anfang an sehr hart gearbeitet“, so Nadiya Borysenko. „Wir haben die Prioritäten festgelegt: Unser Einsatz muss sicher sein, daher ist die Zusammenarbeit mit dem Militär entscheidend.“
Die drei größten Gruppen, denen die Lebensmittelbank helfen konnte: Vertriebene im eigenen Land, besonders im Westen der Ukraine; Menschen, die in den vom Krieg betroffenen Gebieten geblieben sind; sowie Frauen und Männer, die ihre Jobs aufgegeben haben, um für das Land zu kämpfen. Aber Strukturen wie beispielsweise für die Logistik und die Lebensmittelrettung waren zerstört. „Wir mussten überdenken, wie wir uns in einer neuen, unberechenbaren, schrecklichen Umgebung organisieren können“, erklärt die Ukrainerin. Lebensmittel erhielt die Organisation unter anderem von Lebensmittelbanken aus benachbarten Ländern, zudem kaufte sie von Geldspenden Grundnahrungsmittel dazu. Die Team-Mitglieder, die in der Region geblieben sind, mussten die Logistik neu aufsetzen und Lieferungen organisieren. „Unsere Angestellten und Freiwilligen sind unser Schatz“, bekräftigte Nadiya Borysenko.
Neben Pandemie und Krieg stellten auch Naturkatastrophen die Tafeln und Lebensmittelbanken vor große Herausforderungen. Dimitris Nentas, Geschäftsführer der griechischen Lebensmittelbanken, sprach über die Auswirkungen der Wildfeuer und die Herausforderungen bei der Hilfe: „Wir mussten Lösungen finden, wie wir die Waren durch das Land transportieren konnten, besonders in Regionen, in denen wir noch keine Lebensmittelbank haben, und besonders, wenn Dörfer in den Bergen schwer zu erreichen sind.“ Ein weiterer entscheidender Punkt: „Diese Menschen waren es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten. Sie hatten geringe Lebenshaltungskosten und daher vor den Wildfeuern keine Unterstützung benötigt.“ Das griechische Team legte deshalb viel Wert daruf, vorsichtig auf die Menschen zuzugehen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und sie zu überzeugen, dringend benötigte Hilfen anzunehmen.
Über die Flutkatastrophe 2021, die auch mehrere Tafeln in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz traf, sprach Jochen Brühl: „Tafeln wurden überflutet, Ausrüstungen und Waren weggeschwemmt.“ Vor Ort war jedoch generell eine hohe Hilfsbereitschaft zu spüren; Menschen spendeten und reisten in die Region, um beim Wiederaufbau zu helfen. Zur Überbrückung entstanden in vielen Regionen mobile Angebote, die Lebensmittel verteilten. In einer existenzbedrohenden Situation ist schnelle und unbürokratische Hilfe entscheidend.
Die Flutkatastrophe hat gezeigt, wie stark Solidarität in Krisenzeiten sein kann, das ist wirklich beeindruckend und beruhigend. Gleichzeitig ist wichtig, dass diese Unterstützung nicht abreißt, denn bis heute gibt es in diesen Gebieten Probleme.
Jochen Brühl, Vorsitzender Tafel Deutschland e.V.
Ein warnendes Wort richtete Lindsay Boswell, CEO der britischen Organisation FareShare, an die Zuhörerinnen und Zuhörer, als er über die akute Krise der Lebenshaltungskosten in Großbritannien sprach: „Die Pandemie war die Generalprobe, das ist die richtig große Krise.“ Aktuell erleben 9,9 Millionen Menschen in Großbritannien Ernährungsunsicherheit, können sich also nicht mit genug gesunden Lebensmitteln versorgen. Eine Katastrophe in einem so reichen Land. 74 Prozent der Menschen, die momentan Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten, tun das zum ersten Mal.
FareShare investiert deshalb vier Millionen Pfund, um mehr überschüssige Lebensmittel aus der Landwirtschaft zu retten und die eigenen Lager länger zu öffnen und so mehr Lebensmittel von spendenden Unternehmen empfangen zu können. Momentan versucht die Organisation zudem, die Haltbarkeit frischer Lebensmittel zu verlängern, wie Lindsay Boswell erklärt: „Wir kochen Lebensmittel ein, konservieren sie in Dosen oder frieren sie ein.“
Neben den Vorträgen und Gesprächsrunden tauschten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Europa in Workshops und Paneldiskussionen beim FEBA-Kongress in Berlin aus. Sie beschäftigten sich unter anderem mit Kommunikation in Krisenzeiten, Digitalisierung, Projektarbeit während einer Krise und Nachwuchsgewinnung. Hier erhaltet ihr einen Einblick:
Grenzübergreifende Solidarität
Es hat uns sehr beeindruckt zu sehen, was Helferinnen und Helfer in Deutschland, aber auch in ganz Europa unter enormem Druck auf die Beine stellen. Unser gemeinsames Engagement kann keine staatliche Verantwortung ersetzen. Trotzdem ist die grenzübergreifende Solidarität ein Zeichen, das Mut macht. „Tafeln und Lebensmittelbanken sind gelebte Solidarität. Sie sind Beispiele dafür, was die Zivilgesellschaft leisten kann, wenn Staaten und Regierungen zaudern und versagen“, sagte Jochen Brühl beim FEBA-Kongress in Berlin. „Genau wegen dieser enormen Herausforderungen ist es so wichtig, dass wir uns austauschen, dass wir voneinander lernen und zusammenstehen.“
Hintergrund: Was sind Lebensmittelbanken?
„Tafel“ ist ein geschützter Markenname, der im deutschsprachigen Raum verwendet wird. International ist der Begriff „Lebensmittelbank“ (engl. Food Bank) gebräuchlich. Tafeln und Lebensmittelbanken haben ein gemeinsames Ziel: Sie retten Lebensmittel vor der Verschwendung und reduzieren damit Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung. Während Tafeln Lebensmittel vor allem über eigene Ausgabestellen direkt an armutsbetroffene Menschen verteilen, beliefern Lebensmittelbanken hauptsächlich andere soziale Einrichtungen wie Obdachlosenunterkünfte oder Frauenhäuser. Diese Einrichtungen verarbeiten und verteilen die Lebensmittel an die Menschen, die sie unterstützen.