Foto: Jürgen-Michael Schulter
Die Tafeln in Sachsen verbindet eine grenzübergreifende Zusammenarbeit mit den Lebensmittelbanken in Tschechien: Der Tafel-Landesverband gibt dringend benötigte Waren an die Nachbarn weiter, die sich im Gegenzug an den Kosten beteiligen und unter anderem beim Ausbau eines Kühlfahrzeuges unterstützen.
Mit einem Gabelstapler schiebt ein Helfer der Tafel Sachsen vorsichtig eine letzte Europalette voller Lebensmittel in einen tschechischen Transporter, mit wachsamem Blick dirigiert ihn der sächsische Tafel-Landeslogistiker Dietmar Haase. Auf der Palette sind fein säuberlich Joghurts mit Pfirsichgeschmack gestapelt, darunter Kartons voller Getränkepacks, bedruckt mit chinesischen Schriftzeichen. Frische Paprikaschoten in flachen Pappschachteln krönen die Palette. Zuvor hatten Ehrenamtliche bereits Tiefkühlpizzas, einige Galiamelonen und noch mehr Molkereiprodukte in dem Kühlauto verstaut, nun ist die Ladung komplett. Vom Tafel-Lager in Dresden bringen der tschechische Fahrer und seine Beifahrerin die Waren nun zur Lebensmittelbank in Liberec, wo sie verteilt werden.
Seit mehreren Jahren arbeitet der Landesverband Tafel Sachsen bereits mit den tschechischen Lebensmittelbanken zusammen: Sie tauschen Waren und Wissen aus. „Bei den Tafeln entlang der Grenze zu Tschechien haben wir vor etwa neun Jahren festgestellt, dass viele tschechische Bürgerinnen und Bürger gekommen sind, um Lebensmittel zu holen“, erklärt Dietmar Haase, Cheflogistiker und Ehrenvorsitzender der Tafel Sachsen. „Die Menschen haben bei den deutschen Tafeln zum Teil ein Notpaket bekommen.“ Als Kundinnen und Kunden konnten nur Menschen mit Wohnsitz in Deutschland aufgenommen werden.
Unterstützung für Menschen in Tschechien
Eine Lösung musste her, die die Menschen direkt in ihrem Heimatland unterstützte und die Tafeln in Deutschland entlastete. Der damalige Landesvorsitzende der sächsischen Tafeln, Joachim Rolke, nahm Kontakt zur Generalkonsulin der Tschechischen Republik in Dresden auf und erklärte ihr das Problem. Sie half dabei, eine passende Partnerorganisation zu finden.
„In Leitmeritz haben wir uns mit der Lebensmittelbank getroffen. Sie liegt in der ärmsten Region Tschechiens“, sagt Dietmar Haase. Zu dem Zeitpunkt habe sie Spenden nur an andere soziale Einrichtungen wie Hospize, Kindereinrichtungen oder Sozialstationen abgegeben, aber nicht wie die Tafeln direkt an armutsbetroffene Privatpersonen.
Förderprogramm für internationale Zusammenarbeit
„Unser Ziel war es, ein Modelprojekt in Leitmeritz aufzubauen. Dafür haben wir Anträge auf Fördermittel gestellt“, berichtet Landeslogistiker Haase. Mit Erfolg: Die Tafel Sachsen konnte mit Unterstützung der Landesdirektion Sachsen ein Förderprogramm auflegen, das den grenzübergreifenden Austausch unterstützt. „Wir erhalten einen jährlichen Zuschuss von 10.000 Euro für die Zusammenarbeit“, erklärt Karltheodor Huttner, Vorsitzender der Tafel Sachsen. Die Gelder nutzt der Tafel-Landesverband unter anderem für zwei Dolmetscherinnen, die die Sprachbarriere überwinden.
Das Team aus Sachsen lud seine tschechischen Kolleginnen und Kollegen in die Tafel-Ausgabestellen ein, zeigte ihnen dort die Abläufe und gab Ratschläge zum Aufbau eigener Ausgaben. In den letzten Jahren fanden zudem immer wieder Tagungen statt, bei denen beide Seiten aktuelle Herausforderungen besprachen und die Sachsen auf verschiedene Themen der Tafel-Arbeit näher eingehen konnten. Sie erklärten beispielsweise, worauf Tafeln achten, um die Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, wie sie mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum umgehen und wie eine Bedürftigkeitsprüfung abläuft. Indem potentielle Neu-Kundinnen und -Kunden beispielsweise einen Bescheid von Jobcenter oder Rentenkasse vorzeigen, stellen Tafeln sicher, dass sie Lebensmittel gezielt an armutsbetroffene Menschen abgeben.
Molkereiprodukte aus Sachsen
Doch Wissen alleine reicht nicht, die Hilfsorganisationen benötigen auch ausreichend Lebensmittel. In Tschechien regelt seit 2018 ein Gesetz, dass große Discounter Waren kostenlos spenden müssen, statt sie wegzuschmeißen – aber laut Dietmar Haase kommt dabei nicht genug an: „Den tschechischen Lebensmittelbanken fehlten vor allem Molkereiprodukte wie Joghurt.“
In Sachsen spenden mehrere Molkereien an den Landesverband. 2020 nahm die Tafel Sachsen beispielsweise 535 Tonnen Lebensmittel an – davon 365 Tonnen Molkereiprodukte; das entspricht 68 Prozent der Gesamtspenden. „Wir haben den Lebensmittelbanken angeboten, von uns Produkte wie Joghurt zu bekommen“, so der sächsische Landeslogistiker. Seitdem kommen tschechische Lebensmittelbanken aus grenznahen Städten wie Liberec, Leitmeritz und Karlsbad abwechselnd nach Dresden und holen hier Waren ab. Fünf bis sechs Tonnen Lebensmittel gibt die Tafel Sachsen pro Monat nach Tschechien.
Auch die Prager Lebensmittelbank holt seit Beginn der Corona-Pandemie Waren in Dresden ab, obwohl sie im Landesinneren liegt. „In Prag standen plötzlich hunderte Menschen vor der Lebensmittelbank, die nichts mehr zu essen hatten, obwohl die Organisation bis dahin ausschließlich andere soziale Einrichtungen beliefert hat“, berichtet Dietmar Haase. „Die Prager Lebensmittelbank hat angefangen, auch an Bürgerinnen und Bürger Tüten mit Lebensmitteln zu verteilen. Dadurch hat sie einen großen Bedarf und wir haben sie in unsere Abhol-Rotation aufgenommen.“
Chinesische Getränkepacks und Spreewald-Gurken
In einem großen Kühlhaus hinter dem Dresdner Messegelände hat die Tafel Sachsen Kühl- und Lagerplätze zu Sonderkonditionen angemietet. Hier holen die Tafeln, aber auch die tschechischen Lebensmittelbanken die Waren ab, die der Landesverband von Großspendern angenommen und eingelagert hat.
Dietmar Haase läuft durch einen weiträumigen Lagerraum und zeigt auf Paletten voller Getränkepacks, von denen kurz zuvor die Lebensmittelbank aus Liberec bereits mehrere Kartons mitgenommen hat. Dunkelblaue Schriftzeichen zieren die schlichten weißen Verpackungen. „Die Trinkjoghurts wurden in Dresden für China produziert, aber nicht abgenommen“, sagt der Landeslogistiker. Da in Deutschland nur Produkte verkauft werden können, die auch auf Deutsch beschriftet sind, hätte der Hersteller sie vernichtet. Etwa 100 Paletten hat Dietmar Haase angenommen. Tafeln und Lebensmittelbanken haben bereits viel davon abgeholt. Weil die Getränkepacks noch mehrere Monate haltbar sind und nicht gekühlt werden müssen, können die Hilfsorganisationen sie nach und nach ausgeben.
„Wir haben ein Sortiment von circa 20 Warengruppen, die wir zur Verfügung stellen“, so Haase. Aus einem großen Karton holt er Beutel voller Osterschokolade hervor, ein paar Schritte weiter zeigt er auf Paletten voller Gläser mit Spreewälder Gewürzgurken. Fällt beim automatischen Verpacken eine Palette um, landet sie beim Hersteller in großen Hygienebehältern. Die nicht beschädigten Gurkengläser säubert der Landesverband und stellt sie dann den Tafeln zur Verfügung. In einem Nebenraum befinden sich Sachspenden wie Windeln, Einweghandschuhe und weitere Hygieneprodukte. Bei -21 Grad Celsius lagern oben in der dritten Etage noch Pizzas und andere Tiefkühlwaren.
Gegenseitige Unterstützung
Die abholenden Lebensmittelbanken beteiligen sich an den Kosten für die Lagermiete und die Fahrten zu spendenden Unternehmen. Für einen Transport zahlen sie in der Regel einen Unkostenbeitrag von 60 Euro, deutlich weniger als der Warenwert. Selten bekommen die sächsischen Tafeln auch Lebensmittel aus Tschechien, zuletzt zwei Tonnen Pfefferkuchenherzen. „Wir erwerben gerade ein Kühlfahrzeug, das wir möglichst in Tschechien mit Unterstützung der Lebensmittelbank ausbauen lassen wollen“, sagt Landeslogistiker Haase. „Die Zusammenarbeit könnte nicht besser sein.“
Kein Einfluss auf die Warenmengen der deutschen Tafeln
„Durch die Kooperation mit den tschechischen Lebensmittelbanken nehmen wir als Landesverband mehr Spenden an, die wir sonst ablehnen müssten“, so der Landesvorsitzende Huttner. Die Tafeln in Sachsen erhalten also nicht weniger Lebensmittel. Die tschechischen Teams kommen vormittags gegen 10 Uhr zum Dresdner Lager, nachdem die sächsischen Tafeln den Anteil der Spenden abgeholt haben, den sie direkt verteilen oder lagern können. „Wir haben in Deutschland und Tschechien ein gemeinsames Ziel: Wir wollen Lebensmittel vor der Vernichtung retten“, sagt Dietmar Haase. Das tun die Tafeln in Sachsen nun über Grenzen hinaus.
Dieser Beitrag ist im Tafel Magazin 2022 erschienen.