Ein (weiteres) herausforderndes Tafel-Jahr

Porträt der Geschäftsführerin der Tafel Deutschland Evelin Schulz

Evelin Schulz, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland © Wolfgang Borrs

Wir haben Ende 2020 mit Evelin Schulz, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, über die Herausforderungen der Tafeln in diesem Jahr gesprochen und gefragt, wo Unterstützung notwendig ist und wer helfen kann – und vielleicht auch muss. Jetzt haben wir das erste Quartal 2021 bereits hinter uns und sehen, die Themen sind aktueller denn je.

Das Interview erschien im Tafel-Magazin 2020.

1. Was sind die Herausforderungen für die Tafeln in diesem Jahr?

Wir verstehen uns als Zusatzangebot für armutsbetroffene Menschen, durch das wir den Sozialstaat nicht von seinen Aufgaben entbinden und doch hat die Corona-Pandemie gezeigt, wie existenziell unsere Unterstützung für viele ist. Unsere Arbeit ist mittlerweile systemrelevant – das haben die Tafel-Schließungen im Frühjahr 2020 gezeigt. Viele unserer Kundinnen und Kunden waren verzweifelt.

Zwei junge Tafel-Aktive unterstützen die Tafel in Ulm und sortieren Lebensmittel für die Ausgabe.
Viele junge Menschen haben sich 2020 bei den Tafeln
gemeldet und ihre Unterstützung angeboten. © Philip Wilson

In den nächsten Monaten rechnen wir damit, dass noch mehr Menschen zu den Tafeln kommen. Das werden nicht zuletzt die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer vor Ort spüren. Die letzten Monate haben unglaubliches von ihnen gefordert und ich habe größten Respekt vor ihrem unermüdlichen Einsatz – auch vor denjenigen, die ihr Engagement vorübergehend oder dauerhaft niedergelegt haben, da für sie die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus einfach zu hoch war und ist. Viele junge Helferinnen und Helfer sind in den vergangenen Monaten eingesprungen und haben vor Ort ausgeholfen. Bis heute bin ich von dieser schnellen und unkomplizierten Unterstützung überwältigt.

Doch was häufig vergessen wird: Neue Freiwillige bedeuten Koordinierungs- und Einarbeitungsaufwand für die Tafel-Leitungen. Zudem müssen wir dringend neue Freiwilligenmodelle entwickeln, damit wir die Helferinnen und Helfer auch langfristig für unsere Arbeit begeistern. Um dem wachsenden Arbeitsaufwand gerecht zu werden, brauchen wir mehr hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aktuell sind nur 10 Prozent der 60.000 Tafel-Aktiven im Hauptamt tätig.

Eine weitere Herausforderung für uns ist die Anpassung und der Ausbau der Lebensmittelrettung. Die lokalen Tafeln haben vor Ort ein flächendeckendes, netzartiges System aufgebaut, das sie mit den Lebensmittelhändlern, von denen sie die gespendeten Waren abholen, verbindet. Auf regionaler Ebene mangelt es jedoch an Lagerkapazitäten sowie an einer professionellen Struktur für die Abnahme von großen Mengen an Lebensmittelüberschüssen. Aufgrund der fehlenden Infrastruktur müssen wir regelmäßig Warenspenden ablehnen. Das muss sich 2021 ändern.

2. Um diesen Herausforderungen zu begegnen fordert Tafel Deutschland finanzielle Unterstützung vom Staat. Wofür genau fehlt Geld?

Die Tafeln sind eine wichtige Anlaufstelle für Menschen in Not – sie geben nicht nur Lebensmittel aus, sondern sind für viele Menschen ein sozialer Anker, der vor Einsamkeit schützt. Um unsere Arbeit professionell fortführen zu können, benötigen wir Unterstützung und fordern, dass finanzielle Mittel für die Tafel-Arbeit auf Bundes- und Landesebene zur Verfügung gestellt werden.

Zwei Tafel-Aktive laden gespendete Lebensmittel vor der Tafel in Ulm aus.
265.000 Tonnen Lebensmittel retten die über 950 Tafeln
pro Jahr. © Philip Wilson

Konkret fordern wir finanzielle Unterstützung für hauptamtliche Strukturen, denn ehrenamtliches Engagement benötigt Koordinierung im Hauptamt. Beratung, Weiterbildung, Vernetzung, Digitalisierung, Spenden- und Lebensmittelweiterleitung sind nur einige der Aufgaben, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der Tafel Deutschland übernehmen. Diese Arbeit wird künftig an Wichtigkeit zunehmen und braucht eine stabile finanzielle Grundlage. Gleichzeitig ist der Ausbau der Großspendenverteilung auf Landesebene nicht alleine durch Spendengelder und ehrenamtliches Engagement zu stemmen. Unsere Forderung orientiert sich an den Foodbanks in unseren europäischen Nachbarländern, die professionell und verlässlich arbeiten können, da sie staatliche Unterstützung erhalten.

Wir sind eine der größten lebensmittelrettenden Organisationen in Europa und haben das Potential sowohl innerhalb von Deutschland als auch in Europa mehr Lebensmittel zu retten. Diese Strukturen können wir allerdings nur mit einer stabilen finanziellen Unterstützung weiter ausbauen.

3. Laufen die Tafeln durch diese Forderung nicht Gefahr, zunehmend ein politisches Instrument der Armutsbekämpfung zu werden?

Tafeln können und wollen keine Aufgaben des Sozialstaats übernehmen. Eine Unterstützung der Tafeln mit öffentlichen Mitteln darf nicht bedeuten, dass der Staat sich auf unseren Leistungen ausruht. Vielmehr fordern wir als bürgerschaftlicher Verband vom Staat Anerkennung und Unterstützung, damit wir mit unserer sozialen und ökologischen Arbeit weiterhin gesellschaftliche Probleme verringern können. Davon unberührt bleibt eine notwendige Neuausrichtung der Sozialpolitik in Deutschland, damit niemand mehr existenziell auf die Angebote der Tafeln angewiesen ist.


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