Gesicht zeigen für soziale Gerechtigkeit

Plakat der Kampagne "Armut hat viele Gesichter" in Hamburg

Portraitfotos: Reiner Pfisterer

Armut verfestigt sich immer mehr: Bis zu zwei Millionen Menschen kommen regelmäßig zu den Tafeln. Vor den Folgen von Armut warnt Tafel Deutschland eindringlich und setzt sich mit der Kampagne „Armut hat viele Gesichter“ gegen Vorurteile, Scham und Benachteiligung von armutsbetroffenen Menschen ein.

Anja Mary ist eigentlich Tafel-Kundin. Jede Woche bekommt sie hier Lebensmittel für sich und ihre Eltern, die sie pflegt. Im Herbst 2023 schaut sie jedoch selbstbewusst von großen Werbeflächen mitten in Hamburg, Dresden oder Berlin auf Passantinnen und Passanten. Wo sonst Models auf knalligen Anzeigen Konsum anpreisen, sind nun in vielen Städten Tafel-Kundinnen und -Kunden zu sehen. Über ihren Köpfen prangt eine deutliche Botschaft: „Armut hat viele Gesichter. Aber eine Folge: soziale Ungerechtigkeit. Armut abschaffen!“

Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Tafel-Bewegung möchte Tafel Deutschland mit der bundesweiten Kampagne Vorurteile abbauen und zeigen, dass jeder Mensch eine individuelle Geschichte und Persönlichkeit hat. Niemand soll sich dafür schämen müssen, in Not zu geraten und Hilfe zu benötigen. Denn Armut ist kein persönliches Versagen, sondern ein strukturelles Problem.

Ich beziehe Bürgergeld. Es fehlt einfach vorne und hinten. Wäre die Tafel nicht, würde es schlecht aussehen.

Tafel-Kunde Marcel

Viel Armut im Tafel-Jubiläumsjahr

30 Jahre Tafeln in Deutschland bedeuten mindestens drei Jahrzehnte, in denen Menschen mit ihrem Geld kaum über die Runden gekommen sind und ihre Einkäufe mit Lebensmitteln der Tafeln ergänzen mussten. „Ich beziehe Bürgergeld“, berichtet Tafel-Kunde Marcel. „Es fehlt einfach vorne und hinten. Wäre die Tafel nicht, würde es schlecht aussehen.“ Hat der Wechsel von Hartz IV zum Bürgergeld für ihn und seine Kinder einen Unterschied gemacht? „Nicht wirklich.“

2023, im 30. Jahr der Tafel-Bewegung, ist die Lage so angespannt wie lange nicht: 14,1 Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht oder betroffen. Von ihnen kommen 1,6 bis zwei Millionen regelmäßig zu einer der über 970 Tafeln – darunter Seniorinnen und Senioren, Erwerbslose, Menschen mit geringem Einkommen, Alleinerziehende und Geflüchtete. Besonders erschreckend: 28 Prozent der Tafel-Kundschaft sind jünger als 18 Jahre.

Die Nachfrage nach Unterstützung ist jedoch deutlich größer: 38 Prozent der Tafeln mussten nach Kriegsbeginn in der Ukraine vorübergehende Aufnahmestopps einführen, da sie nicht genug Lebensmittelspenden erhielten. Jeweils 29 Prozent der Tafeln haben die Abholhäufigkeit je Kundin bzw. Kunde reduziert, um möglichst vielen Menschen zu helfen, oder führen eine Warteliste.

Tafel-Kundin Christina erhält eine geringe Rente. Vom Staat wünscht sie sich mehr Unterstützung für hilfesuchende Menschen, aber auch für Menschen, die anderen helfen.

Dringend nötig: politische Armutsbekämpfung

So sehr sich die 60.000 Tafel-Aktiven auch für Menschen mit wenig Geld einsetzen: Ihre Hilfe kann immer nur ein Zusatzangebot sein. Als private Initiativen finanzieren sich Tafeln vor allem aus Spenden und werden von ehrenamtlichem Engagement getragen. Die Versorgung jeder Bürgerin und jedes Bürgers muss der Staat sicherstellen.

Die letzten Sozialreformen enttäuschten jedoch, wie der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Andreas Steppuhn, erklärt: „Weder Bürgergeld noch Kindergrundsicherung oder Mindestlohn schützen vor Armut. Hier muss die Bundesregierung dringend nachbessern, um allen Menschen
ein realistisches Existenzminimum zu garantieren.“

Armut hat dramatische Folgen

Ganz klar, armutsbetroffenen Menschen fehlt Geld: Sie müssen vielleicht am Essen sparen oder wohnen mit mehreren Personen auf engstem Raum. Gehen Waschmaschine oder Winterjacke kaputt, müssen sie lange sparen – wenn ein Ersatz überhaupt drin ist. Auch Hobbys oder Ausflüge sind oft unerschwinglich.

„Im Urlaub bin ich noch nie gewesen“, sagt eine Tafel-Kundin, die anonym bleiben möchte. „Ich würde gerne mal irgendwo hinfahren, Beine untern Tisch und entspannen. Aber es geht nicht.“ Nach jahrelanger Arbeit bezieht sie nun krankheitsbedingt Bürgergeld und kommt damit kaum aus: „Seit die Strompreise erhöht wurden, muss man ums Überleben kämpfen.“

Neben den materiellen Sorgen wirkt sich Armut auf viele weitere Lebensbereiche aus, die nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar sind: Viele Betroffene ziehen sich aus Scham zurück, leben in Isolation und verlieren zwischenmenschliche Kontakte. Sie haben ständig Angst, dass eine unerwartete Rechnung im Briefkasten landet, der Kühlschrank kaputt geht oder die Miete erhöht wird und sich ihre Situation weiter verschlechtert.

All das hat dramatische Folgen: Armutsbetroffene Menschen sterben im Durchschnitt früher als wohlhabendere Menschen. Sie haben ein höheres Risiko für psychische und physische Krankheiten wie Depressionen, Herzprobleme oder Diabetes. Bis zu sechs Generationen dauert es in Deutschland, ehe Nachfahren einer einkommensschwachen Familie Armut überwinden und ein durchschnittliches Einkommen erhalten.

Tafel-Kundinnen und -Kunden zeigen Gesicht

Für Armut, ihre vielfältigen Gründe und Folgen braucht es deshalb ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein. Denn Vorurteile gegenüber armutsbetroffenen Menschen und der dadurch fehlende öffentliche Druck auf die Politik tragen maßgeblich dazu bei, dass politisch in den letzten Jahren und Jahrzehnten kaum wirkungsvolle Maßnahmen zur Unterstützung Betroffener umgesetzt wurden.

Tafel Deutschland ist daher den Tafel-Kundinnen und -Kunden dankbar, die für eine gerechtere Gesellschaft Gesicht zeigen. Mit ihrer Geschichte verdeutlichen sie, dass Armut viele strukturelle Gründe hat und jeder Mensch ein Leben in Würde und entsprechende Unterstützung verdient.


Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2023.

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