Foto: Philip Wilson
Als Mitgründer der Tafel Ludwigsburg und Vorsitzender der Tafel Deutschland hat Jochen Brühl die Tafel-Bewegung über zwei Jahrzehnte lang begleitet und mitgestaltet. Im Sommer 2023 zog er sich aus der aktiven Tafel-Arbeit zurück. Die Tafel- Bewegung und der Dachverband haben dem 57-jährigen Sozialarbeiter und Fundraiser viel zu verdanken.
Mit stehenden Ovationen und lautem Jubel bedankten sich Hunderte Tafel- Aktive aus ganz Deutschland bei ihrem Vorsitzenden: Jochen Brühl beendete beim Bundestafeltreffen im Juli 2023 seine aktive Zeit bei den Tafeln nach knapp 25 Jahre Engagement, darunter 16 Jahre im Vorstand des Dachverbandes Tafel Deutschland.
Was hat ihn an der Tafel-Idee überzeugt, dass er so lange dabeigeblieben ist? „Es gibt ein Sprichwort in Indien: Viele Tropfen ergeben ein Meer. Ich finde, das ist bei den Tafeln so, denn viele Leute engagieren sich an unterschiedlichen Stellen und bewegen gemeinsam etwas Großartiges. Davon bin ich gerne ein Teil“, erklärt Jochen Brühl und ergänzt nach kurzem Nachdenken: „Jede Tafel, die ich besucht habe, ist ein Ort der Begegnung. Das hat mich immer begeistert. Man lernt die unterschiedlichsten Menschen kennen und kommt mit ihnen ins Gespräch. Da trifft die Rechtsanwaltsgattin mit der Alleinerziehenden zusammen, der ehemalige Schuldirektor mit dem syrischen Geflüchteten, die Hausfrau mit dem ehemaligen Lkw-Fahrer. Das sind Leute, die sich sonst nicht begegnen würden, die aber bei den Tafeln zusammenkommen.“
Diakon kommt zur Tafel wie die Jungfrau zum Kinde
Für den 1966 geborenen Westfalen begann die Tafel-Reise 1999 unerwartet als Geschäftsführer der Tafel Ludwigsburg: „Ich bin dazu wie die Jungfrau zum Kinde gekommen.“ Zu der Zeit arbeitete Jochen Brühl bei einer kirchlichen Stiftung in Ludwigsburg. Für seine damalige Vorgesetzte schrieb er Protokoll bei einer Veranstaltung, auf der die Tafel Ludwigsburg gegründet werden sollte. Während er Protokoll führte, erfuhr er, dass sich die Anwesenden auf Brühl als Geschäftsführer geeinigt hätten: „Ich habe den Kopf gehoben und alle grinsten mich an.“
In seine neue Rolle fand er sich schnell hinein: „Ich hatte immer das Gefühl, dass einem Tafel-Menschen sehr gerne mit ihren Erfahrungen weiterhelfen. In Ludwigsburg hatte ich schnell ein Netzwerk von Leuten, die mich sehr unterstützt haben.“ Insgesamt 13 Jahre führte Brühl die Tafel Ludwigsburg als ehrenamtlicher Geschäftsführer.
2005 begann er, sich zusätzlich bei der Tafel Deutschland zu engagieren. „Es war nie mein Ziel, den Sprung auf die Bundesebene zu machen“, so Jochen Brühl. „Mir war es immer wichtig, bei den Tafeln vor Ort zu sein und mit den Menschen im Gespräch zu bleiben. Aber ich wurde gefragt: ‚Kannst du dir vorstellen, dich da einzubringen?‘“ Er nahm die neue Herausforderung an – mit Erfolg: Zunächst engagierte sich der studierte Sozialarbeiter, Diakon und Fundraiser im wissenschaftlichen Beirat des Dachverbandes. 2007 wählte ihn die Mitgliederversammlung zum stellvertretenden Vorsitzenden und 2013 zum Vorsitzenden der Tafel Deutschland.
Die Tafel-Bewegung durch Krisen führen
Bei den Vorstandswahlen 2015 und 2019 wurde Jochen Brühl in seinem Amt als Vorsitzender bestätigt. Seine dritte Amtszeit, die 2023 regulär endete, war geprägt von einer langen Folge erschütternder Krisen: Zunächst die Corona-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine. Die daraus resultierende Inflation belastet bis heute Menschen finanziell und verdeutlicht, dass diejenigen mit wenig Geld immer zuerst und am meisten unter außergewöhnlichen Umständen leiden. „Tafeln sind deshalb auch eine Anklage. Wir helfen, aber wir erheben auch die Stimme. Tafel-Arbeit ist per se politisch – und wird in meinem Erleben immer politischer, je größer die Krisen werden“, sagte Jochen Brühl 2022 in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Marion- Dönhoff-Preises an die Tafel Deutschland. Die Auszeichnung nahm er stellvertretend für die 60.000 Tafel-Aktiven entgegen – zu denen Jochen Brühl selbst gehörte und denen er in seiner Amtszeit oft eine Stimme verliehen hat.
In unzähligen Interviews, TV-Beiträgen und Reden machte er auf das große Engagement und die vielen Herausforderungen der Tafel- Helferinnen und -Helfer aufmerksam und forderte Maßnahmen gegen die riesige Verschwendung von Lebensmitteln ein. Er sprach auch mit Nachdruck über seine Begegnungen mit Tafel-Kundinnen und -Kunden, um zu verdeutlichen, dass armutsbetroffene Menschen nicht nur mehr Empathie, sondern auch faire finanzielle Unterstützung vom Staat benötigen.
Die Tafel-Idee ist so einfach wie genial. Wenn man sie nicht vor 30 Jahren gehabt hätte, müsste man sie heute erfinden.
Jochen Brühl
Menschen verbinden, Tafeln unterstützen
Ob auf dem Roten Sofa im NDR, in seinem Debattenband „Volle Tonne, leere Teller“ oder bei Hintergrundgesprächen mit Bundestagsabgeordneten in nüchternen Versammlungsräumen: Mit Leidenschaft und Überzeugungskraft setzte sich Jochen Brühl im Namen der Tafeln für armutsbetroffene Menschen und einen wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln ein.
„Ich habe es immer sehr genossen, mit Menschen in Kontakt zu sein“, blickt Jochen Brühl auf sein langes Engagement zurück. „Ich habe es ebenfalls sehr genossen, mit Kundinnen und Kunden und mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Tafeln zu reden. Ich habe es sehr genossen, Leute miteinander zu verbinden, also die Spenderin oder den Spender mit der
Tafel und der Idee der Tafel-Bewegung. Es hat mir extrem viel Freude gemacht, Leuten zu signalisieren, dass wir alle etwas beitragen und ändern können.“
Den Tafeln bleibt der ehemalige Vorsitzende als Ehrenvorsitzender der Tafel Deutschland treu. Diesen Titel, mit dem keine Aufgaben verbunden sind, haben ihm die Tafel-Aktiven zum Abschied und zum Dank auf dem Bundestafeltreffen 2023 verliehen.
Nach fast einem Vierteljahrhundert Engagement bei den Tafeln ist Jochen Brühl immer noch überzeugt: „Die Tafel-Idee ist so einfach wie genial. Wenn man sie nicht vor 30 Jahren gehabt hätte, müsste man sie heute erfinden.“
Dieser Beitrag erschien im Tafel-Magazin 2023.