Sabine Werth: „Das Ehrenamt muss ein Wohlfühlort sein“

Portrait Sabine Werth, Berliner Tafel
Foto: Reiner Pfisterer

Sabine Werth ist ehrenamtliche Vorsitzende und Gründerin der Berliner Tafel – damit hat sie den Grundstein für die bundesweite Tafel-Bewegung gelegt. Für ihr Engagement wurde sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Interview erzählt Sabine Werth, wie sich ihre Arbeit in 30 Jahren Tafel verändert hat, warum Ehrenamtliche heute emotional betroffener sind als vor den vielen Krisen und was sie mit der Tafel Jugend plant.

Du hast dich immer parallel zum Berufsleben ehrenamtlich engagiert. War das nur möglich, weil du dein eigenes Unternehmen, eine Familienpflege, führst oder hättest du auch bei einer Festanstellung immer den Wunsch gehabt, dich ehrenamtlich zu engagieren?

Den Wunsch hätte ich schon gehabt, aber nicht die Möglichkeit, weil ich locker 40 Stunden pro Woche für die Berliner Tafel arbeite. Das hätte mir kein Arbeitgeber ohne weiteres zugestanden. Mein Familienpflegebetrieb ist zum Glück in guten Händen bei meiner Einsatzleitung und ich habe mein Büro in den Räumen der Berliner Tafel angemietet. Das heißt, ich bin automatisch sowohl für meine Familienpflege da, wenn es erforderlich ist, aber auch für die Berliner Tafel.

Welche Aufgaben nimmst du als Vorsitzende der Berliner Tafel wahr?

Die Frage ist schwer zu beantworten, wenn ich mir die letzten 30 Jahre vorstelle. In den ersten Jahren bin ich selber ausgefahren und habe Lebensmittel eingesammelt. Das war eine völlig andere Situation als heute.

Heute müssen wir Spenden auch nicht mehr so akquirieren wie am Anfang, als ich noch erklären musste, was wir machen. Heute brauche ich nicht mal „Berliner Tafel“ zu sagen – wenn ich die Tafel erwähne, reicht das schon und ich hab bei meinem Gegenüber ein offenes Ohr.

Im Laufe der letzten 30 Jahre haben wir uns mega professionalisiert und inzwischen bin ich das Gesicht der Tafel. Ich war in dieser Woche bei drei Abendveranstaltungen, bei denen ich einen Vortrag gehalten habe. Inzwischen besteht mein Alltag vor allem aus Repräsentationspflichten.

Gibt es Momente, in denen du heute das direkte Anpacken, Sortieren, Fahren für die Tafel vermisst?

Wir sind im Februar immer bei der Fruit Logistica und da bin ich das ganze Wochenende mit Sortieren beschäftigt. Aber sonst vermisse ich es nicht. Ich habe das lange genug gemacht und finde es toll, dass es jetzt andere machen. 

Mit wie vielen Frauen aus der Initiativgruppe Berliner Frauen hast du damals die Berliner Tafel gegründet?

Rein theoretisch bestand der Verein aus 55 Frauen. Rein praktisch waren es aber höchstens fünf, die überhaupt aktiv waren. Mit denen habe ich die Initiativgruppe verlassen, weil ich festgestellt habe, dass die anderen Frauen immer kamen, wenn die Presse da war. Sonst waren wir wirklich allenfalls fünf, die gearbeitet haben.

Warum bist du als einzige am Ball geblieben? Gab es etwas an der Tafel-Idee, das dich von Anfang an besonders überzeugt hat?

Das Besondere war ganz bestimmt, dass ich dem Vorstand der Initiativgruppe zeigen wollte, dass sie völlig schief gewickelt waren mit dieser Einstellung, dass die Tafel etwas nicht so Wichtiges sei. Ich hatte von vornherein das Gefühl, dass sie wichtig ist. Nachdem die ersten Interessierten aus anderen Städten nachgefragt und ebenfalls Tafeln gegründet haben, war mir klar, dass die Tafel-Idee noch viel wichtiger werden wird. Von daher hatte ich von vornherein eine Vision und wollte zeigen, dass genau diese Vision richtig ist.

Foto: Berliner Tafel e.V.

Und du hast Recht behalten, die Tafeln gibt es noch immer und sie sind mehr gefordert denn je. Zu Beginn war es jedoch eure Hoffnung, dass die Tafel irgendwann nicht mehr nötig sein wird. Wie siehst du das heute nach 30 Jahren Erfahrung mit Armut und Lebensmittelverschwendung?

Lebensmittelverschwendung und Armut waren vor 30 Jahren nicht im Bewusstsein der Leute, sowohl privat als auch geschäftlich. Die Händlerinnen und Händler hatten Überschüsse und die haben sie in die Tonne getreten, das war halt so. Wir haben mit unserer Arbeit darauf aufmerksam gemacht, dass es auch noch Alternativen zum Wegwerfen gibt.

Genauso wie die Politik vor 30 Jahren noch den Standpunkt vertrat, es gäbe keine Armut in Deutschland, wir hätten ein Sozialsystem, was mit Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung alles auffangen würde.

Insofern haben wir erreicht, dass über die Lebensmittelverschwendung als auch über Armut nachgedacht wird. Wir sind allerdings noch weit davon entfernt, dass es beides nicht mehr gibt. Das allein ist ein Grund weiterzumachen.

Ich würde inzwischen nicht mehr sagen: Ich hoffe, dass es die Tafel irgendwann nicht mehr geben muss. Ich denke, dass wir Tafeln unsere Arbeit aufgeben können und müssen, wenn es keine Lebensmittelverschwendung UND keine armutsbetroffenen Menschen mehr gibt. Vorher nicht. 

30 Jahre Tafeln in Deutschland

Würdest du sagen, dass sich die Anforderungen an Ehrenamtliche durch die vielen Krisen (Corona, Inflation, Krieg) geändert haben oder war es schon immer ein Teil des Ehrenamts bei der Tafel, dass man flexibel auf Herausforderungen reagieren können muss?

Es ist immer noch eine gewisse Herausforderung, Lebensmittel zu sammeln, obwohl wir von allen Seiten Unterstützung bekommen. Was sicher mehr geworden ist, ist der Verkehr. Und es ist nicht nur in Berlin so, sondern sicher in den anderen Städten auch. Die Kosten sind auch gestiegen.

Das Ehrenamt selber, glaube ich, ist nicht anders, als es damals war. Allenfalls wenn ich mit unseren Ehrenamtlichen spreche, beispielsweise in den Ausgaben. Die kennen die Kundinnen und Kunden zum Teil schon seit 10 oder 15 Jahren und wenn sie jetzt sehr viel weniger Lebensmittel ausgeben können als noch vor zwei Jahren, dann trifft sie das natürlich emotional. Ihnen tut es einfach richtig leid, die würden die Leute wahnsinnig gerne mit viel mehr Lebensmitteln unterstützen, aber wir haben halt nicht mehr. Also insofern, glaube ich, ist unserer Tafel-Ehrenamt emotional betroffener.

Portrait von Sabine Wert
Foto: Reiner Pfisterer

Was sollten Ehrenamtliche deiner Erfahrung nach mitbringen, um sich bei einer Tafel zu engagieren? Reicht es, Zeit und Lust zu haben und einfach mal vorbeizukommen oder sollte man zum Beispiel körperlich fit sein?

Wir haben bei der Berliner Tafel eine Ehrenamtskoordination, das ist eine ganze Abteilung und die Kolleginnen beraten auch. Wenn jemand wahnsinnig gerne helfen möchte, aber körperlich leider gar nicht dazu in der Lage ist, irgendwas Schweres zu machen, dann versuchen wir, an die Ausgabestellen zu vermitteln, in der Hoffnung, dass sie dann zum Beispiel gerade jemand Ehrenamtliches an der Registratur suchen.

Das Ehrenamt muss ein Wohlfühlort sein, ansonsten bleiben die Leute nicht lang. Wir versuchen unsere Ehrenamtlichen nicht nur für sporadische Einsätze zu gewinnen, sondern eben wirklich kontinuierlich, und dazu gehört, dass wir sie da einsetzen, wo sie gebraucht werden und sich wohlfühlen. 

Gibt es rückblickend Momente in 30 Jahren Tafeln, die für dich besonders prägend waren und dir gezeigt haben, wie sehr sich dein Einsatz lohnt?

Die Berliner Tafel existiert ausschließlich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Wir nehmen sehr bewusst keine öffentlichen Gelder in Anspruch. Eine meiner Lieblingsspenden hatte in der Betreffzeile „für mein gutes Zeugnis“. Ein Kind hat Geld für ein gutes Zeugnis bekommen und dieses Geld gespendet. In solchen Momenten geht mir das Herz auf und da habe ich das Gefühl: Ja, was wir machen, ist genau richtig. Wir bringen sogar die Jüngsten dazu, von unserer Arbeit überzeugt zu sein und das finde ich so toll.

Ich mache weiter und versuche, politisch und gesellschaftlich so viel Einfluss wie möglich zu nehmen. 

Sabine Werth, Vorsitzende der Berliner Tafel

Du kommst langsam in ein Alter, bei dem die meisten Ehrenamtlichen erst bei einer Tafel anfangen, hast aber schon 30 Jahre hinter dir. Wie siehst du deine Zukunft bei der Berliner Tafel?

Ich habe angekündigt, dass ich ab 90 auf halbtags verkürze. Mal sehen, ob ich das schaffe, das wirklich so umzusetzen oder ob ich auch mit 90 noch sagen darf, ich warte jetzt noch bis 100.

Die Mitglieder der Berliner Tafel haben mich bei der letzten Wahl mit 100 Prozent wieder als Vorsitzende bestätigt. Eine schönere Bestätigung könnte ich nicht haben. Ich mache einfach so weiter und versuche, politisch und gesellschaftlich an allen Ecken und Enden so viel Einfluss wie möglich zu nehmen. 

Was wünschst du dir für die Zukunft des Ehrenamts bei den Tafeln?

Im Augenblick träume ich davon, gemeinsam mit der Tafel Jugend die Tafel Jugend Berlin aufzubauen. Das ist der nächste Schritt, der ansteht.

Bei allen Ehrenamtlichen, die die Tafel-Arbeit bundesweit unterstützen, möchte ich mich herzlich bedanken. Wir sind nur so weit gekommen, weil es so wahnsinnig wundervolle Menschen gibt, die mit ihrem Ehrenamt zeigen, wie wichtig und schön unsere Arbeit ist.

Sabine Werth
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